Längst wird nicht mehr nur in den Metropolen demonstriert.

Foto: Stefan Brändle

Cyril will die Konzerne bezahlen lassen, nicht die Arbeiter.

Foto: Stefan Brändle

Die Demonstrierenden stammen aus vielen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen.

Foto: Stefan Brändle

So viele Menschen hat die majestätische Kathedrale von Chartres in ihren 900 Jahren wohl noch nie erlebt: Zum fünften Mal seit Jänner haben sich an diesem Donnerstag tausende Gegner der Pensionsreform im Stadtzentrum versammelt, um gegen die Erhöhung des Antrittsalters von 62 auf 64 Jahre zu protestieren. Bis zu zehntausend Demonstranten gehen in der bedächtigen Stadt südwestlich von Paris jeweils auf die Straße – ein Viertel der Bevölkerung.

Wie anderswo im Land: In einzelnen Provinzstädten wie Rodez demonstriert die Hälfte der Stadt. Die einfachste Erklärung für dieses Phänomen, das die Regierung auf dem falschen Fuß erwischt hat, kommt von Krankenpfleger Pascal: "C’est la colère" – es ist der Zorn. Die Franzosen seien wütend über den fortgesetzten Abbau angestammter Rechte.

1981 habe der sozialistische Präsident François Mitterrand das Pensionsalter auf 60 Jahre gesenkt. "Das war eine französische Errungenschaft wie die 35-Stunden-Woche, sozusagen unser sozialer Richtwert", sagt der Mann mit dem grünem Filzhut. "2010 erzwang Nicolas Sarkozy 62 Jahre. Und jetzt will uns Emmanuel Macron auf 64 Jahre trimmen. Es reicht!"

Abgrenzung zu Paris

Pascal bricht ab und hebt den Finger, um zum Zuhören anzuhalten, als über die Lautsprecher die Stimme einer Gewerkschaftssprecherin erklingt: "Diese Reform ist ungerecht. Im Alter von 64 Jahren sind ein Viertel der ärmeren Arbeiter bereits tot." Bei den Menschen in Führungspositionen hätten in diesem Alter erst fünf Prozent das Zeitliche gesegnet.

Cyril, die rote Gewerkschaftsfahne eines Gasarbeiters geschultert, hat mitgehört. "Sagen Sie Ihren Lesern in Österreich, wir seien keine schimpfenden, undisziplinierten und arbeitsscheuen Franzosen, wenn wir gegen das höhere Pensionsalter sind." In Paris habe man vielleicht Flausen, dort gebe es in den Umzügen Transparente für die 20-Stunden-Woche und das "Recht auf Faulheit".

Besteuerung der Konzerne

Nicht hier in Chartres, der Stadt der Kathedralenbauer. Die Basilika, die so viele Reisende anzieht, sei soeben zehn Jahre lang aufwendig renoviert worden. "Wir haben nichts gegen das Malochen. Aber alles in Maßen, wir wollen dabei auch nicht draufgehen, während sich die anderen die Taschen füllen."

Cyril ist deshalb für die Besteuerung der "Supergewinne", jüngst etwa der französischen Erdölkonzerne wie Totalenergies. Das spüle mehr Geld in die Staatskasse als die Erhöhung des Pensionsalters, ruft der Mann mit der Sonnenbrille aus, bevor ein gellendes Konzert aus Trillerpfeifen und Nebelhörnern den Startschuss zum Abmarsch gibt.

Generationenübergreifend

Mit dabei sind in dem Umzug drei Frauen verschiedenen Alters. "Tochter, Mutter, Großmutter", stellt Gwenaelle stolz vor. Die 50-jährige Volkssschullehrerin aus einem Nachbardorf betont, sie gehöre keiner Gewerkschaft an. Sie habe Mühe, die Streiktage selber zu bezahlen, aber ihr gehe es um ihre Zukunft und die der Tochter. Und ihrer eigenen.

Sie rechnet vor: "Da ich bis 24 studiert habe, müsste ich bis 67 aktiv bleiben, denn Macron erhöht nicht nur das Antrittsalter, sondern auch die Beitragsdauer für eine Vollpension auf 43 Jahre. Und mal ehrlich", fragt sie ihre Tochter Jana, "siehst du, wie eine 67-Jährige noch Unterricht geben soll, ohne dass die Schüler sie anders als 'die Alte' bezeichnen?" Die Zwölfjährige bejaht lachend mit ihrer Zahnspange. Sie demonstriert zum ersten Mal in ihrem Leben und hat noch etwas Mühe, zu den skandierten Slogans die Faust zu schütteln.

Trotzdem: "Ungerecht ist die Reform vor allem für Lehrlinge, die schon mit 16 oder 17 ins Berufsleben eingestiegen sind. Die werden am längsten arbeiten", sagt ihre Mutter. Wenn sie von ihrem Arbeitgeber überhaupt nur bis zum Schluss behalten werden.

Kein Glaube an "Seniorenindex"

Gwenaelle erzählt, in Frankreich werde man ab 55 häufiger als anderswo in Europa frühpensioniert oder auf die Straße gestellt. Die Pariser Regierung realisiere erst jetzt, dass viele Spätfünfziger nur aus diesem Grund gegen das höhere Pensionsalter seien: Sie müssten in dem Fall noch länger dagegen kämpfen, aus dem Job gedrängt zu werden. Premierministerin Elisabeth Borne hat zwar einen "Seniorenindex" vorgeschlagen, der die Firmen unter Strafandrohung anhalten sollte, ein Minimum an Senioren zu beschäftigen. Die Nationalversammlung lehnte dieses Vorhaben aber als schönfärberisch, wenn nicht wirkungslos ab.

Auch Gwenaelle glaubt nicht daran: "Wenn die Senioren schon länger arbeiten sollen, müsste die Regierung nicht mit einem bloßen Index dafür sorgen, dass sie nicht entlassen werden können." Großmutter Ginette, mit ihren 80 Jahren ebenso bei der Demonstration, fragt zurück, wie hoch denn das Pensionsalter in Österreich sei. 65, bald auch für Frauen. "Na ja, wenn man bis dann noch nicht zum alten Eisen geworfen wird ...", sinniert die weißhaarige Dame, die Mai 1968 in Paris erlebt hat.

Sie verhehlt nicht, dass sie das in Frankreich einst sakrosankte Pensionsalter 60 zu tief fand und auch nie für Mitterrand gestimmt hat. "Aber jetzt bin ich solidarisch mit meinen Kindern und Enkelinnen", sagt sie. "Seit der Covid-Zeit wollen die Jungen ihr Leben nicht mehr nur mit Arbeiten verbringen. Da hat Macron einen schlechten Zeitpunkt für seine Reform gewählt."

Größere Blockaden geplant

Bis zum 7. März pausieren die Reformgegner ferienbedingt. Dann sollen sie, so die Lautsprecherstimme, den öffentlichen Verkehr nicht mehr nur tageweise, sondern zeitlich unbefristet lahmlegen und notfalls immer mehr Wirtschaftssektoren blockieren. Es scheint ganz, dass auf Frankreich etliche Turbulenzen zukommen. Die majestätische Kathedrale von Chartres wird sie überstehen. Der Präsident kann sich dessen schon weniger sicher sein. (Stefan Brändle aus Chartres, 20.2.2023)