Die Koffer waren gepackt, die Wohnung eingemottet, als ich beim letzten Kontrollblick in den Kühlschrank die fast leere Rotweinflasche entdeckte (ein Weinexperte erklärte mir mal, dass er sich da länger hält). In einer knappen Stunde wollten mich meine Eltern fürs gemeinsame Weihnachtsfest in der Heimat abholen. Was also tun mit dem Wein? Trinken? Zu früh. Eine Diskussion mit meinem Vater riskieren (beige Ledersitze)? Oder doch trinken?

Nach einem Blick auf die Uhr radelte ich zum nächsten Supermarkt und besorgte mir zwei Birnen. Ich warf sie mit dem Wein in einen Topf, gab Gewürze hinzu und ein paar der getrockneten Orangenschalen, die ich stets in einem Gläschen aufbewahre. Noch warm reisten die eingekochten Rotweinbirnen mit mir nach Hause.

Übrig gebliebene Pastaberge entsorgen geht gar nicht.
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Bitte aufheben

Lebensmittel wegzuschmeißen war mir schon immer ein Graus. Wahrscheinlich habe ich es von meiner Mama. Unser Kühlschrank beherbergte stets ein buntes Potpourri aus Tupperdosen, alten Marmeladengläsern und Eierbechern, in denen Essensreste auf ihre weitere Verwendung warteten. Wie die Mutter, so die Tochter: Sofern nicht böse verschimmelt, verbacke und verkoche ich sämtliche Reste und setze sie mit Vorliebe jenen Skeptikern vor, die ein Joghurt entsorgen, sobald das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist.

Als ich vergangenen Herbst in Paris war, machte ich mich auf die (zugegebenermaßen illusorische) Suche nach dem besten Croissant der Stadt. Während ich Nummer drei bei der Kultbäckerei Du Pain et des Idées aß, beobachtete ich ein todschick gekleidetes amerikanisches Pärchen, das gierig über seine Beute herfiel: Pain au Chocolat, Escargot Chocolat Pistache, Tartes aux Pommes. "So good!" Fotos für Instagram. "Try this!" Brösel auf der edlen Bluse. Dann packten sie die Reste zurück ins Sackerl, zerknüllten es und schmissen es in den Mistkübel. Wie kann ich etwas, das mir in einem Moment noch großen Genuss bereitet hat, im nächsten beiläufig und ohne Skrupel wegwerfen? Das frage ich mich, wenn ich zum Essen oder Kochen verabredet bin, (leider) andauernd. Was sind uns unsere Lebensmittel wert? Angesichts der Massen, die weggeschmissen werden, anscheinend nicht viel.

Pastarettung

Neben mangelnder Wertschätzung ist da natürlich noch das Problem mit den Ressourcen: Land, Wasser, Dünger. Während der Uni habe ich mir mal ein Stück Acker gemietet und Gemüse gepflanzt. Sollte jeder mal machen, der leichtfertig Essen wegschmeißt. Da werden einem erst der Aufwand und die Zeit bewusst, die in einem ganzen Kohlkopf stecken.

Noch heute muss ich oft an ein romantisches Dinner mit meinem ersten Freund denken. Es gab – er war 20 – Spaghetti mit Tomatensauce. Als er den übrig gebliebenen Pastaberg in den Müll kippen wollte ("Kostet doch nix", sagte er), hatten wir unseren ersten Streit.

Mittlerweile haben sich Bekannte daran gewöhnt, dass ich Sachen aus ihrem Biomüll klaube oder nach Tupperdosen frage, um Reste zu mir nach Hause zu retten. "Willst du den geschmolzenen Fonduekäse hier echt mitnehmen?", fragte mich ein Freund. "Ja, und die Brotwürfel auch!" Am nächsten Tag gab’s käsige Semmelknödel.

Estragon-Dilemma

Seit einigen Jahren bin ich bei Foodsharing aktiv. "Verwenden statt verschwenden", heißt das Motto der 2012 gegründeten Vereinigung. Das Konzept ist simpel: Nach Ladenschluss geht man bei den beteiligten Betrieben vorbei und packt ein, was nicht mehr verkauft werden kann. Auf der Liste stehen Tankstellen, Imbisse, (Super)Märkte, Hotels, Kantinen. Riesige Kübel und Ikeataschen gehören zur Grundausstattung.

Welke Kräuter? Am besten Pesto, Öl oder Essig daraus machen. Oder gleich als Ferment konservieren.
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Wer gratis seinen Kühlschrank füllen will, ist bei Foodsharing falsch. In erster Linie geht es darum, die Massen an übrig gebliebenen Lebensmitteln dorthin zu bringen, wo sie gebraucht und geschätzt werden. Zum Beispiel in die Wärmestube, wo man Frittatensuppe und Reispfanne aus der Schulkantine dankend annimmt.

Und doch: Natürlich fällt meist auch für uns etwas ab. Vor allem nach Abholungen beim Wochenmarkt. Letzten Herbst kam ich mit zwei prall gefüllten Beuteln Estragon zurück. Foodsharing regt definitiv zur kulinarischen Kreativität an. Ich kaufte mir fünf Flaschen Essig und stopfte großzügig Kräuter hinein. Fertig war der Estragonessig. Weiter ging’s mit Pesto. Zwei Teile Estragon mit einem Teil Walnüssen, Salz, Pfeffer und eventuell Knoblauch im Mörser zerstoßen. Dann geraspelten Käse – bei mir war’s der Rest Pecorino aus dem Kühlschrank –, etwas Zitronensaft und Öl zugeben, bis alles schön cremig ist.

Tipps vom Koch

Ein befreundeter Koch empfahl Öl. "Bringt Aroma und Farbe auf den Teller." Dafür werden sehr viele Kräuter (zum Beispiel Estragon) mit Öl im Mixer zerkleinert, anschließend auf circa 80 Grad erhitzt und dann durch ein Tuch abgeseiht. In einem Londoner Restaurant, in dem wirklich alles verwendet wird (ich sag nur: Kimchisaft-Sour-Ale), lernte ich kürzlich, dass man Kräuter auch fermentieren und damit konservieren kann.

Auf die Idee bin ich damals nicht gekommen. Aber, als ich die letzten Reste in der Hand hielt, fiel mir der Windbeutel (Anm.: so werden Brandteigkrapfen in Deutschland genannt) ein, den ich mal in einer Berliner Patisserie gegessen hatte. Garniert mit eingelegten Pflaumen, Frischkäsecreme und: Estragon. Man kennt ihn ja eigentlich nur aus Gurkengläsern, in Senf oder der buttrigen Sauce béarnaise.

Daher hier noch ein Aufruf: Bei traurig vor sich hin welkenden Kräuterbündeln einfach mal über den kulinarischen Tellerrand spitzen. Wenn die Saison gekommen ist, probieren Sie mal Schokobrownie mit Estragon-Pfirsich-Kompott. Oder die slowenische Potica, ein nussgefüllter Germkuchen, der häufig mit Estragon gemacht wird.

Ach ja: Über die Rotweinbirnen, die es Heiligabend zum Dessert gab, haben sich alle sehr gefreut. (RONDO, Verena Carola Mayer, 26.2.2023)