Künstlerin Christine Sun Kim performte 2020 bei der Eröffnung des Super Bowl.

Foto: François Ghebaly / A J Mast

Bevor die Frau im silbernen Abendkleid mit ihrer Performance beginnt, hebt sie ihre Hände mit abgespreizten Fingern in die Luft und fächert sie hin und her. Dann ebbt der Applaus ab, die US-Hymne erklingt, und Christine Sun Kim beginnt, den Text in ASL, die amerikanische Gebärdensprache, zu übertragen. Die aus Kalifornien stammende Künstlerin performte bei der Eröffnung des Super Bowl 2020 an der 40-Yard-Linie, Yolanda Adams und Demi Lovato sangen zehn Yard weiter. Kims impulsive Körpersprache interpretierte die Worte der Hymne, Mimik und Gestik transportierten die Musik.

Um im Rhythmus zu bleiben und die Zeilen so genau mit der Übersetzung treffen zu können, stand ihre Übersetzerin Beth Staehle abseits und gab der tauben Künstlerin synchron Signale, um die nächste Passage anzukündigen. "Weil die englische Sprache und ASL unterschiedliche Geschwindigkeiten haben, mussten wir uns ein eigenes System dafür überlegen", erklärt Kim, "Beth agierte quasi wie mein Teleprompter, sie war mein Echo."

Die kalifornische Künstlerin Christine Sun Kim überträgt den Text der US-amerikanischen Nationalhymne in ASL, die amerikanische Gebärdensprache. Sie performte an der 40-Yard-Linie, Yolanda Adams und Demi Lovato sangen zehn Yard weiter.
The National Association of the Deaf (NAD)

In der Wiener Secession zeigt die in Berlin lebende Künstlerin nun die Einzelausstellung Cues on Point, in der sie dieser Interpretation eine eigene Videoarbeit widmet und auf die Bedeutung der Simultanübersetzungen für taube Personen hinweist. DER STANDARD traf die Künstlerin noch während der letzten Aufbauarbeiten in der Secession, ein Interpret übersetzte von ASL auf Englisch, eine zweite Übersetzerin von Englisch in ASL.

Zur Vorbereitung auf einen Termin mit Christine Sun Kim erhält man allgemeine Unterlagen über die "Deaf Community", die Gebärdensprache sowie eine Information, welche Beschreibungen in einer Berichterstattung über die Künstlerin vermieden werden sollen. Reduzierungen auf ihre Behinderung sollen ausgespart, auf die Darstellung der eigenständigen Gebärdensprache als "Ansammlung von Gesten" oder Begriffe wie "Stille" verzichtet werden.

Alles verändernde Klangkunst

"Dass ich als nichtweiße, taube Frau Soundart mache, wollen viele einfach nicht verstehen", so Kim, deren Eltern aus Korea in die USA emigrierten. Dabei habe die Entdeckung von Klangkunst für sie alles verändert – "it fucking changed my life", sagt die 1980 geborene Konzeptkünstlerin, die bereits im MoMA in New York, dem Museum für Moderne Kunst Frankfurt oder auf der Berlin Biennale ausstellte.

Das Echo als Metapher zieht sich als meterhohes Wandbild durch den Hauptraum der Secession: Schwarze Bögen wachsen Richtung Decke und fallen wieder zum Boden. Die Bewegung wiederholt sich und variiert nur leicht. "Echo ist eigentlich ein Begriff für hörende Menschen", sagt Kim. "Es geht dabei aber auch um Wiederholung, und diese spielt in meinem Leben eine große Rolle. Ständig brauche ich das Echo anderer, um übersetzt zu werden."

"Cues On Point": Blick in Christine Sun Kims Ausstellung in der Wiener Secession.
Foto: Oliver Ottenschläger

In Zeichnungen, Videos, Wandbildern und Performances zeigt Kim ihre Beziehung zum gesprochenen Wort und zur gesellschaftlichen Funktion von Klang. In reduziertem Schwarz-Weiß visualisiert sie "Sound" als eine Form von Bewegung, die sich oft auf ASL bezieht, und übersetzt diese in eine eigene, fast musikalische Sprache. Die Kombination prägnanter Worte und angedeutete Dynamiken lassen einen an Comics denken.

Probleme in alltäglichen Situationen

Beispielsweise in ihren schwarzen Kohlezeichnungen, in denen sie mittig nur ein kleines Feld weiß lässt, das immer enger zu werden scheint. Die Begriffe "Hand" und "Handfläche" beschreiben die durch gebogene Linien visualisierte Gebärde von "Echo". Kim nennt diese Formationen Echofallen und versteht sie als Kommentar auf den sozialen Umgang mit tauben Personen: "Es sind Momente des Erstickens."

Diese Wut auf eine Welt, die auf eine hörende Mehrheitsgesellschaft ausgelegt ist und dabei auf andere Menschen vergisst, verarbeitete Kim in der Vergangenheit in sogenannten "Deaf Rage"-Rankings. In diesen Infografiken veranschaulichte sie Probleme in alltäglichen Situationen drastisch und humorvoll zugleich: wenn Kuratoren es fair finden, die Bezahlung für die Künstlerin mit ihren Übersetzern zu teilen, oder wenn in Ausstellungen lange Videos ohne Untertitel gezeigt werden. Aber auch in welchen Situationen Kim die "Taubheitskarte" ausspielt, um sich in einer Warteschlange vorzudrängeln. Für sie funktioniert Humor gleichermaßen als Schutzschild, Maskierung und Eisbrecher. (Katharina Rustler, 21.2.2023)