Die US-amerikanischen Sicherheitsdienste, so hieß es am Montag, seien nicht gerade begeistert gewesen. Joe Biden könnte doch während seiner Europa-Tour auch an die polnisch-ukrainische Grenze fahren und dort seinem ukrainischen Gegenüber Wolodymyr Selenskyj die Hand schütteln? Oder vielleicht nach Lwiw (Lemberg), nur ein paar Dutzend Kilometer von der Grenze entfernt? Der US-Präsident aber, so berichtet es der Rolling Stone, habe sich nicht beirren lassen: Nur kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wollte er persönlich in Kiew seine Unterstützung zeigen.

Wolodymyr Selenskyj und Joe Biden besuchten auch ein Memorial für im Krieg gefallene ukrainische Soldaten. Selenskyj dankte seinem Besucher dabei für die Unterstützung.
Foto: AFP / Dimtar Dilkoff

Nur ein sehr kleiner Kreis wusste bis Montagfrüh darüber Bescheid, dass der US-Präsident seinen Willen bekommen würde – dass also erstmals in der modernen Geschichte ein US-Präsident in ein Kriegsgebiet reisen würde, in dem nicht das US-Militär seine Sicherheit garantieren könnte. Die wenigen Reporter, die nach Europa mitreisen durften, wurden vor der Abfahrt aufgefordert, ihre Mobiltelefone abzugeben. Auf dem offiziellen Tagesplan, den das Weiße Haus jeden Tag an die Presse verschickt, waren für Montag Fake-Termine in Washington vermerkt. 17 Uhr "Out-of-Town Pool Call", 18.15 Uhr "In-Town Pool Call", 18.40 Uhr "Abreise nach Polen" – wo Biden für eine große Rede am Dienstag erwartet wird.

Fake News aus dem Weißen Haus

Tatsächlich war er zum Zeitpunkt, als der Plan verteilt wurde, längst auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt. Zehn Stunden lang sei der Präsident im Zug von der polnischen Grenze aus Richtung Kiew gefahren, beschrieb die New York Times – offiziell bestätigt wurde das Transportmittel allerdings nicht.

Nur Stunden vor der Abfahrt war Moskau laut einer Meldung der Agentur AP informiert worden. "Um Fehlkalkulationen zu vermeiden", wie der Sicherheitsberater Bidens, der ebenfalls mitgereiste Jake Sullivan, die Gefahren laut AP salopp umschrieb. Und so musste man dort weniger rätseln als viele Einwohnerinnen und Einwohner in Kiew, wieso plötzlich im Frühverkehr zahlreiche Straßen gesperrt wurden – sogar für Fußgänger, was bei anderen Staats- und Arbeitsbesuchen in Kiew bisher nicht üblich war. Bald verdichteten sich ohnehin die Hinweise: Dmytro Kuleba, der ukrainische Außenminister, sagte seine lang geplante Reise zu den Amtskollegen in Brüssel ab, US-Delegationen wurden in Kiew gesichtet, und dann tauchte ein aus weiter Ferne aufgenommenes Video auf. Zu sehen, verschwommen, aber doch deutlich genug: Biden und Selenskyj, unterwegs zu Fuß vor dem Kiewer St. Michaelskloster im Stadtzentrum.

Er sei insgesamt sechsmal in Kiew gewesen, sagte Biden danach bei einem kurzen Auftritt vor der Presse, "und ich habe immer gewusst, dass ich eines Tages zurückkehren werde". Er betonte auch die internationale Geschlossenheit gegen den russischen Angriffskrieg, die er mit seiner Visite habe deutlich machen wollen. "Putin hat gedacht, dass die Ukraine schwach sei und der Westen unterschiedlicher Meinung", sagte er. "Aber er lag völlig daneben. Ein Jahr nach dem Angriff steht Kiew; auch die Ukraine steht; und die Demokratie steht. Amerika steht Ihnen bei und die Welt ebenso. Ich muss sagen, Kiew hat einen Teil meines Herzens erobert."

Weitere 500 Millionen Dollar

Doch auch wenn die Symbolkraft der Reise beträchtlich war: Wirklich Konkretes hatte Biden nicht in seinem schmalen Reisegepäck. Zwar kündigte er nach einer Unterredung mit Selenskyj weitere Militärhilfen im Ausmaß von 500 Millionen US-Dollar an und sprach auch von weiteren Lieferungen des Himars-Raketenwerfersystems. Genauere Informationen wollte er erst am Dienstag in seiner großen Rede in Polen bekanntgeben. Nach den Worten Selenskyjs habe man auch "über Langstreckenwaffen" gesprochen – ob die USA nach der Unterredung aber wirklich bereit sein würden, solche an die Ukraine zu liefern, war keineswegs sicher.

Klar war hingegen, dass Bidens Ansprache zu einer Art Fernduell mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin werden würde. Denn auch dieser wollte am Dienstag eine lang angekündigte Rede zur Lage der Nation halten. Dass gleich am kommenden Tag beide Häuser des russischen Parlaments – die Duma und der Föderationsrat – zusammentreten sollen, sorgt vielfach für Sorgen. Denn die Zustimmung beider Gremien braucht man in Russland für tiefgreifende Entscheidungen. Was wird der russische Präsident verkünden?

Gegen den "kollektiven Westen"

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gab sich am Montag noch zugeknöpft, während in Moskau schon Plakate für die Ansprache des Präsidenten warben. "Putin arbeitet an der Botschaft (…). Die Vorbereitungen laufen heute, es sind keine öffentlichen Veranstaltungen geplant", zitierte ihn die Nachrichtenagentur Ria Novosti. Viele Russen warten auf Putins Rede, warten auf Antworten. Wie wird es weitergehen in der Ukraine? Wie lange wird es dauern? Wird es eine neue Mobilisierung geben?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Frau Olena Selenska heißen Joe Biden in Kiew willkommen.
Foto: AP / Evan Vucci

Anfangs dachten viele, dass es eine "Spezialoperation" gegen die Ukraine sei. Jetzt werden die Kämpfe in der Ukraine als Konflikt zwischen Russland und dem Westen wahrgenommen. Die Angst vor einem Weltkrieg treibt viele Russen um. Gemäß einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts befürchten dies 56 Prozent der Befragten.

Klar schien im Vorfeld: Wladimir Putin will Härte zeigen. Militärisch ist vor allem die Söldnertruppe Wagner in der Ostukraine erfolgreich. Doch Putin will mehr. Er will den "kollektiven Westen" mit den USA an der Spitze zurückdrängen, der Waffen an die Ukraine liefert und mit bislang mäßigem Erfolg Russlands Wirtschaft sanktioniert.

Dass Moskau auf neue internationale Bemühungen eingehen könnte, in der Ukraine eine Verhandlungslösung zu suchen, scheint unsicher – auch wenn sie von China kommen. Dessen ehemaliger Außenminister und nunmehrige Top-Diplomat Wang Yi war am Montag auf seiner Heimreise von der Münchner Sicherheitskonferenz in Moskau zu Gast – dem Vernehmen nach auch, um Russland die Grundzüge eines chinesischen "Friedensplans" näherzubringen.

Schielen auf das Jahr 2024

Moskau allerdings will China eher zur Lieferung von Waffen bewegen – was Peking laut Aussage hoher Vertreter der US-Regierung auch tatsächlich in Erwägung zieht. Putin sieht sich längst in einem großen Krieg gegen ein "Anti-Russland" im Westen – den er als Anführer einer Atommacht um jeden Preis gewinnen will. Dieser Gedankengang, so nahm man an, werde sicherlich auch Bestandteil seiner Rede sein. Putin versucht, seine eigene Position zu festigen – ein Jahr vor den Neuwahlen im Land. Moskaus Machtelite stellt sich darauf ein, dass der seit 23 Jahren Regierende auch 2024 wieder antreten wird.

Das übrigens, so alle Anzeichen, eint ihn mit Biden. Auch der US-Präsident scheint zunehmend auf einen erneuten Antritt im kommenden Jahr hinzuarbeiten – wobei die Bilder von seinem waghalsigen Besuch in Kiew hilfreich sein könnten. Eine andere Interpretation der US-Entscheidung wäre es allerdings, sie als Warnung an Putin zu verstehen – immerhin waren die USA ja zuletzt sehr verlässlich über die Pläne Russlands informiert.

Dass die Reise allerdings auch mit realen Gefahren verbunden war, zeigte sich noch während Bidens Kiewer Spaziergang. Da heulten auf einmal die Luftalarm-Sirenen los – nicht nur in Kiew, sondern im ganzen Land. In Belarus war eine russische MiG aufgestiegen, hieß es danach – einen Raketenbeschuss, so wie an vielen anderen Tagen, hatte es nicht gegeben. Die Kämpfe im Osten des Landes allerdings tobten auch am Montag weiter. Hier hatten die russischen Truppen und die Söldnertruppe Wagner zuletzt leichte Zugewinne gemacht. Putins Ziel eines von Russland eroberten Donbas liegt freilich noch immer in denkbar weiter Ferne. (Manuel Escher, 21.2.2023)