Das Jahr 2023 war noch keinen Tag alt, als man in Wien schon den ersten Mord witterte: Nach dem gewaltsamen Tod eines Apothekers in der Silvesternacht löste nur zwei Tage später ein lebloser Körper in Margareten erneut Mordalarm aus. Zuletzt rief eine tödlich endende Schießerei in Simmering das Landeskriminalamt auf den Plan. Es war eine aufsehenerregende Häufung von Kapitalverbrechen, wenn auch eine zufällige: Denn Wien ist, das attestieren ihr mehrere Studien, eine der sichersten Städte weltweit. Dennoch nähren die Fälle weiter das Image Wiens als gefährliche Großstadt.

Der Soziologe Kenan Güngör hält Wien für eine sehr sichere Stadt, "Angstorte" und "Meid-Zonen" gebe es dennoch.
Foto: Christian Fischer

Die harten Fakten widersprechen dem oft zitierten subjektiven Sicherheitsgefühl: Morde gehen seit Jahrzehnten zurück. 1994 waren es 40 Fälle in Wien, 15 im Jahr 2021. Zahlen für 2022 gibt es noch nicht. Im von der Bevölkerungszahl her vergleichbaren München – oft als sicherste deutsche Millionenstadt bezeichnet – waren es 14. Doch auch abseits schlagzeilenträchtiger Gewalttaten hat Wien eine schlechte Nachrede – vor allem wenn die Opposition über die seit mehr als 100 Jahren sozialdemokratisch regierte Stadt spricht.

Dieser Tage hallt noch der Befund des FPÖ-Politikers Gottfried Waldhäusl in der Debatte nach. Der in Niederösterreich für Tierschutz, Integration und Asyl zuständige Landesrat hatte Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im Fernsehen ausgerichtet, Wien wäre "noch Wien", wenn sie nicht hier wären. Waldhäusl erntete von allen Parteien mit Ausnahme der FPÖ heftige Kritik.

Selbst einige Blauen gingen ein wenig auf Distanz. Waldhäusl legte nach und unterstrich erneut seine "Angst" wegen der "vielen Straftaten im Ausländerbereich". FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz sekundierte, in der Hauptstadt könne man sich "nicht mehr in der Nacht auf die Straßen trauen". Der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp sprach von "Migrantenrandalen", Messersteichereien und Vergewaltigungen als Folge der Aufnahme von Flüchtlingen 2015.

Wiens Ruf ist aber schon länger ruiniert. Auch die ÖVP sorgt sich vor "Zuständen wie in Berlin-Neukölln oder in den Vorstädten von Paris", wie es der türkise Wien-Chef Karl Mahrer formuliert. Außerhalb der Stadtgrenze gilt Wien oftmals als Migrationsbabel und krimineller Hotspot. Die Zuschreibungen halten sich wacker, obwohl die Kriminalität österreichweit seit 20 Jahren eher rückläufig ist – zuletzt auch in Wien.

In einigen Jahren gibt es zwar Ausreißer nach oben hin, einen permanenten Anstieg seit 2015 aber gibt es nicht. 2019 erreichten die ausländischen Tatverdachtsfälle nach Daten des Bundeskriminalamts einen Höhepunkt (45.366), seither sinken sie wieder – wobei die Lockdowns während Corona als Faktor hinzukommen. Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen unter den Verurteilten bewegte sich in Österreich in den vergangenen Jahren stets rund um die 40-Prozent-Marke.

Die Soziologin Monika De Frantz.
Foto: Christian Neubacher

Die Figur von der Stadt "als Ort von Unsicherheit, Krankheit und Kriminalität im Gegensatz zum friedlichen, idyllischen Land" finde sich oft in der Geschichte, erklärt Monika De Frantz, Professorin für politische Soziologie. Während der Industrialisierung, als die Massen vom Land in die Stadt zogen, sei diese als etwas Neues, Chaotisches beschrieben worden. Das ziehe sich weiter durch, etwa in Hollywoodfilmen und sozialen Medien, die Klischees über Orte verstärken würden. "Dieser Stadt-Land-Gegensatz besteht heute eher als Metapher", sagt De Frantz. "Sie hat sich in unsere Köpfe eingebrannt, auch wenn sie in der Realität der Menschen immer weniger relevant ist." Daraus versuchten vor allem Parteien rechts der Mitte Kapital zu schlagen.

Zugleich hat die Anzahl der ausländischen Tatverdächtigen im Laufe der Zeit tatsächlich zugenommen – während allerdings auch die Einwanderung anstieg. Die einzige Großstadt des Landes ist in den vergangenen 20 Jahren um die Größe von Graz angewachsen.Ein erheblicher Teil der nach Wien Eingewanderten stammt zudem aus europäischen Ländern, allen voran aus Deutschland, Rumänien und Serbien. Die Diskussion dreht sich dennoch zumeist um Syrer und Afghanen – ähnlich verhielt es sich zuvor etwa auch mit den Tschetschenen.

Das mag dem politischen Kalkül geschuldet sein, liegt aber auch den Delikten, mit denen die beiden Gruppen in Zusammenhang gebracht werden. Fälle von Körperverletzung und Vergewaltigung sind über die Jahre – abgesehen vereinzelter Spitzen – in Wien weitgehend auf demselben Niveau geblieben.

Bei beidem sind Syrer und Afghanen gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überrepräsentiert. Zwar fallen in dieser Statistik auch die Rumänen auf, ihre Community ist aber doppelt so groß wie die syrische und dreimal größer als die afghanische.

Umgekehrt bilden die Gesetzesübertreter nur einen kleinen Teil der Diaspora ab. Der Soziologe Kenan Güngör beschreibt Wien als sehr sichere Stadt, "Angstorte" und "Meid-Zonen" wie den Praterstern oder den Keplerplatz in Favoriten gebe es dennoch. Güngör zeichnet das Bild von abgehängten migrantischen Jugendlichen und Männern, die ihren Tag wegen fehlender Strukturen und mangelnder Perspektiven auf diesen stark frequentierten Plätzen verbrächten – und nicht selten in den Drogenhandel abgleiten würden. Die raue Atmosphäre, Anmachsprüche, fixierende Blickkontakte führten schnell zu einem erhöhten Unsicherheitsgefühl, auch wenn nichts passiere, sagt Güngör. Besonders für Frauen seien diese Orte angstbesetzt.

Der Donaukanal in Wien bei Nacht.
Foto: Christian Fischer

Der Fall einer Vergewaltigung einer 18-Jährigen auf einer öffentlichen Toilette am Praterstern im Vorjahr fällt aus dem Rahmen, wie das Bundeskriminalamt erklärt. Vergewaltigungen im öffentlichen Raum, ohne Bekanntschaftsverhältnis zwischen Täter und Opfer sind demnach "äußerst selten". Wenn sie aber passieren, seien sie "medial überrepräsentiert". Im Fokus liegen oftmals auch einzelne Bezirke, allen voran der zehnte, aus dem in den vergangenen Jahren vermehrt Ausschreitungen durch Teile der türkischstämmigen Bevölkerung vermeldet wurden. Gemessen an der Anzahl der Straftaten liegt Favoriten tatsächlich vorne. Der Bezirk ist allerdings auch der bevölkerungsreichste Wiens.

Setzt man die Kriminalitätsrate in Verhältnis zu den dort lebenden Menschen, verringert sich diese – während jene der kleineren Inneren Stadt abrupt steigt: Im ersten Bezirk leben weniger Menschen, dort finden sich touristische Sehenswürdigkeiten und Lokale. Die Polizei veröffentlicht keine Aufschlüsselung nach Delikten, betont aber, dass die Zahl der Straftaten allein nicht aussage, wie sicher eine Gegend sei. "Im Bezirk Innere Stadt wird es vermutlich zu einer größeren Anzahl an Taschendiebstählen kommen als etwa in Wien-Liesing", sagt eine Sprecherin.

Jugendarbeiter Holzhacker auf dem Wiener Schwedenplatz.
Foto: Robert Newald

Christian Holzhacker, pädagogischer Bereichsleiter beim Verein Wiener Jugendzentren, sagt, Jugendgangs, die sich mit dem Vorsatz treffen, kriminelle Handlungen zu begehen, wie man sie aus anderen Städten kenne, "haben wir in Wien nicht". Das hieße aber nicht, dass es nicht trotzdem zu kriminellen Handlungen kommen könne, wenn sich junge Menschen treffen.

Diese Gruppen hätten sich verändert, sie seien kleiner und volatiler geworden, was auch an den sozialen Medien liege, die spontanere Treffen ermöglicht hätten. Holzhacker ortet keine kriminellen Hotspots in Wien. Jugendliche – vor allem sozioökonomisch benachteiligte – würden sich versammeln, wo die öffentliche Anbindung gut sei – und es ein WLAN gebe. Die Pandemie hätte die Wichtigkeit des öffentlichen Raumes verstärkt, "und jetzt fliegen ihnen die nächsten Krisen um die Ohren". Das verstärke die generelle Anspannung – was wiederum das allgemeine Unsicherheitsgefühl auf allen Seiten noch einmal erhöhe. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, Grafiken: Michael Matzenberger, 22.2.2023)