Joe Biden hatte einen großen Auftritt vor dem Königsschloss in der polnischen Hauptstadt Warschau.

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Der Hammer kam ganz zum Schluss der Rede. "Die Situation nach 1945 hat sich verändert. Es ist inakzeptabel, die US-Weltordnung in ihren eigenen egoistischen Interessen umzugestalten. Unter diesen Bedingungen muss ich erklären, dass Russland seine Teilnahme am Start-Vertrag aussetzt." Der New-Start-Vertrag ist einer der wichtigsten nuklearen Abrüstungsverträge. Er wurde 2010 in Prag unterzeichnet, trat 2011 in Kraft und wurde 2021 unmittelbar nach seinem Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden um weitere fünf Jahre verlängert.

Vor geladenen Gästen aus den Eliten der russischen Politik und vor Soldaten, die in der Ukraine gekämpft hatten, wirkte Wladimir Putin sehr selbstsicher. Viele Angriffe auf den Westen, viele Versprechungen an die Bevölkerung. Russland first, alles wird gut – der russische Präsident ist im Wahlkampfmodus.

Russlands Präsident Wladimir Putin nutzte seine Rede in Moskau auch zur Abrechnung mit dem Westen.
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In fast genau einem Jahr findet die Präsidentschaftswahl statt. Der Westen wolle Russland "ein für alle Mal erledigen", so Putin. Russland werde aber seine Offensive in der Ukraine "sorgfältig und systematisch" fortsetzen. Für die Eskalation des Ukraine-Konflikts machte Putin allein den Westen verantwortlich.

Neue Atomtests möglich

Die Aussetzung des New-Start-Vertrags ist eine unverhohlene Drohung. Sogar neue Atomtests hält der russische Präsident für möglich. "Wenn die USA die Tests durch führen, werden wir das auch tun." New Start ist das einzige noch verbliebene große Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Der Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf jeweils 1550 einsatzbereite Sprengköpfe und 800 Trägersysteme – wobei von Letzteren maximal 700 im Einsatz sein dürfen. Am Abend kam diesbezüglich vom russischen Außenministerium die Relativierung: Russland werde sich an die Begrenzung seines Atomwaffenarsenals im Rahmen des Abkommens weiter halten.

Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen. Kontrolliert werden soll die Einhaltung mittels Satelliten- und Fernüberwachung sowie 18 Inspektionen vor Ort pro Jahr. Seit Frühling 2020 werden die Inspektionen aber nicht mehr durchgeführt – zunächst wegen der Corona-Pandemie und danach, weil Russland Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Inspektionen immer wieder verschob.

Putin kündigte in seiner Rede zudem eine Modernisierung der russischen Armee an. Und er dankte "dem ganzen russischen Volk für seinen Mut und seine Entschlossenheit". Zugleich warnte er vor dem Hintergrund der Unterdrückung jeglicher Kritik am Ukraine-Einsatz und am Kreml in Russland, dass "Verräter" zur Rechenschaft gezogen würden.

Russische Zivilisation bewahren

Putins Drohung in Richtung USA zielt aber auch nach innen. Russland sei groß und stark, sagte der Präsident. "Russland ist ein offenes Land, aber gleichzeitig eine unverwechselbare Zivilisation", sagte Putin. "Es wurde uns von Vorfahren übergeben, und wir müssen es bewahren und an die Nachkommen weitergeben. Wir werden uns auf unsere Traditionen und Werte stützen."

DER STANDARD

An mehreren Stellen bezog sich der Kreml-Chef auf die Sowjetunion. In Bildung, Kultur und Wirtschaft soll sich Russland vom Westen abwenden und sich auf neue Werte stützen. Mit Blick auf die internationalen Sanktionen äußerte Putin die Ansicht, dass der Westen "nichts erreicht hat und nichts erreichen wird".

Der Strukturwandel in der russischen Wirtschaft infolge des Krieges sei längst überfällig, so Putin. Er begrüßte das Ende der Abhängigkeit russischer Unternehmen vom Westen. Eine solche Abhängigkeit sei gefährlich. Die Firmen sollten mehr zu Hause in Russland investieren. Kein einfacher Russe bedauere es, dass die Zeiten, in denen reiche Russen Yachten und Paläste im Westen als sichere Häfen gekauft hätten, vorbei seien, fügt Putin hinzu.

Jenseits der Rhetorik in Richtung Westen warb Wladimir Putin um seine Wähler. Der Politologe Abbas Galljamow, früher selbst als Redenschreiber im Kreml tätig, kommentierte die Rede so: Es sei der Versuch, "die Loyalität der Menschen zu kaufen. Der offensichtlichste Beweis dafür ist, dass die öffentliche Meinung wichtig ist."

Deutliche Worte in Kiew

Kiew fand deutliche Worte zur Rede Wladimir Putins. "Er befindet sich in einer völlig anderen Realität, in der es keine Gelegenheit gibt, einen Dialog über Gerechtigkeit und Völkerrecht zu führen", sagte Mychailo Podoljak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Auch Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan befand Putins Vorstellung für "absurd", dass "Russland in irgendeiner Form von der Ukraine oder sonst jemandem militärisch bedroht werde". Was Putins Ankündigung betrifft, den Atomwaffen-Kon trollvertrag New Start mit den USA auszusetzen, appellierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg an den Kreml-Chef, "seine Entscheidung zu überdenken und geltende Verträge zu achten". Für US-Außenminister Antony Blinken ist der Schritt "äußerst bedauerlich und unverantwortlich".

In der Zwischenzeit sorgte Biden rund 1.150 Kilometer südwestlich von Moskau schon fast für einen Hype. Sein spektakulärer Überraschungsbesuch in Kiew am Montag hatte die ohnehin schon hohen Erwartungen in Polen noch einmal gesteigert. Am Dienstagabend hielt er dann vor dem Warschauer Königsschloss eine Rede.

Andauernde Unterstützung

Erwartungsgemäß sicherte er dabei der Ukraine und den europäischen Verbündeten die andauernde Unterstützung der USA zu. "Vor einem Jahr bereitete sich die Welt auf den Fall von Kiew vor", sagte Biden. Er nahm Bezug auf seinen dortigen Besuch am Vortag und könne berichten, dass Kiew stark sei: Die ukrainische Hauptstadt stehe "stolz", "aufrecht" und "frei".

Russland werde den Krieg in der Ukraine niemals gewinnen, so Biden. Und auch die Nato könne sich der Solidarität der USA sicher sein: "Es besteht kein Zweifel: Das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zu unserem Nato-Bündnis und zu Artikel fünf ist felsenfest. Jedes Mitglied der Nato weiß es, und Russland weiß es auch: Ein Angriff gegen einen ist ein Angriff gegen alle. Es ist ein heiliger Eid, jeden Zoll des Nato-Gebiets zu verteidigen."

Bereits zu Mittag hatte Biden bei einem Treffen mit seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda die weitere Unterstützung der USA zugesichert. Die Nato sei "stärker als je zuvor", betonte er. Sein Gesprächspartner erklärte an die Adresse Bidens: "Ihr Besuch ist ein wichtiges Zeichen der Sicherheit, ein Signal der Verantwortung der USA für die Sicherheit der Welt und Europas. Amerika kann die Weltordnung aufrechterhalten."

Pikantes Timing

Dass Biden nur Stunden nach Putins Rede zur Lage der Nation einen großen Auftritt hinlegte, kann vielen Beobachtern zufolge kein Zufall gewesen sein. Offiziell zumindest heißt es aber, der Zeitpunkt der Ansprache sei nicht wegen Putin gewählt worden, sondern laut Bidens Berater Sullivan wegen des Jahrestags des Kriegsbeginns am Freitag. "Dies ist kein rhetorischer Wettstreit mit irgendjemand anderem."

Für Biden ist es die zweite Polen-Visite binnen eines Jahres. Bereits Ende März 2022 – und somit einen Monat nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine – hatte er in Warschau eine Rede gehalten, auch damals vor dem Königsschloss, das 1944 von den Nazis gesprengt und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde. Er versicherte der Ukraine den Beistand der USA und griff Putin scharf an, indem er ihn unter anderem als "Schlächter" bezeichnete. Noch mehr in Erinnerung blieb damals aber Bidens spontaner Satz: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht im Amt bleiben." Wenig überraschend sorgte der Sager für scharfe Kritik aus Moskau. Das Weiße Haus beeilte sich, die Aussage herunterzuspielen und klarzustellen, dass der US-Präsident keinen Regimewechsel in Moskau gefordert habe.

Neben seiner Botschaft für Kiew und Moskau geht es Biden bei der Reise nach Polen auch darum, die Beziehung zwischen Washington und Warschau zu stärken. Polen hat sich im bald vergangenen ersten Kriegsjahr als zuverlässiger und tatkräftiger Partner erwiesen. Unter Beweis gestellt hat dies Warschau mit eigener großzügiger militärischer Unterstützung der Ukraine, mit regelmäßigen Appellen an die Partnerstaaten zu noch mehr Waffenlieferungen und mit der Aufnahme von bislang rund 1,5 Millionen ukrainischen Flüchtlingen. (Jo Angerer aus Moskau, Kim Son Hoang, Gerald Schubert, 21.2.2023)