Es passiert im Stillen. Zehntausende Kinder sind seit Beginn des Krieges laut ukrainischen Angaben nach Russland entführt worden. Dass Kinder nach Russland gebracht werden, ist bekannt und auch kein Geheimnis – DER STANDARD berichtete erst zu Wochenbeginn von einer Causa in Tirol.

Der italienische Künstler TVBOY sprayte in Irpin bei Kiew ein Graffito, das zwei Kinder namens "Friede" und "Hoffnung" in Fußballdressen zeigt, die in den ukrainischen Landesfarben Blau und Gelb gehalten sind.
Foto: AFP/DIMITAR DILKOFF

Der Umfang aber und die Systematik sind es, über die weniger bekannt ist. Ukrainische Stellen sprechen von einer gezielten Kampagne. Russland stellt die Transporte als "Rehabilitationsaufenthalte" dar – und hat auch eine Reihe an gesetzlichen Maßnahmen ergriffen, die die Alarmglocken schrillen lassen sollten: So gelten vereinfachte Regelungen für die Adoption von ukrainischen Kindern, schildert Dmytro Lubinets, der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments dem STANDARD.

Verschleppte ukrainische Kinder sollen laut einem Bericht der ZDF-Sendung "Frontal" auch in ein SOS-Kinderdorf in Russland gebracht worden sein, das "Ö1-Morgenjournal" berichtete am Dienstag davon. Die Organisation will den Fall untersuchen und verweist auf ihre Verantwortung, den Kindern individuell zu helfen.

STANDARD: Wie viele Fälle von Kindesentführung wurden denn nun eigentlich registriert? Die Zahlen schwanken offenbar zwischen 6.000 und 150.000 Fällen ...

Lubinets: Laut dem staatlichen Portal "Kinder des Krieges" wurden bis zum 9. Februar 2023 16.207 Kinder deportiert. 11.593 Kinder wurden direkt in die Russische Föderation gebracht. Gleichzeitig gelten nach Angaben der nationalen Polizei der Ukraine 347 Kinder als vermisst. Dabei handelt es sich jedoch nur um registrierte Fälle, während es in Wirklichkeit Hunderttausende solcher Kinder gibt. Nach Angaben der Medien des Aggressorlandes, die sich auf Quellen im russischen Militär berufen, sind fast 733.000 ukrainische Kinder nach Russland verschleppt worden.

STANDARD: Worauf stützen sich diese Zahlen im Detail?

Lubinets: Dies sind die Daten, die dem Ministerium für Wiedereingliederung in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Informationsbüro vorliegen. Die Quellen sind Strafverfolgungsbehörden.

STANDARD: Wie laufen diese Verschleppungen ab?

Lubinets: Entführungen fanden und finden häufig unter dem Vorwand der Evakuierung statt. Ukrainische Kinder können aus verschiedenen Einrichtungen zur Pseudorehabilitation entführt werden. Auch solche Fälle sind uns bekannt. Und dann werden diese Kinder zur Erziehung in russische Familien gebracht.

STANDARD: Ist das systematisch?

Lubinets: Die Systematik lässt sich an den Zahlen ablesen. Heute sind es nach offiziellen Angaben Tausende von Kindern.

STANDARD: Wer sind diese Kinder? Sind es Waisenkinder? Sind das Kinder, die zuvor bereits in staatlichen Einrichtungen waren?

Lubinets: Es gibt Fälle, in denen Kinder aus Waisenhäusern entführt wurden. Das geschah in Oleschky. Dort gab es Kinder mit Behinderungen, die auf die Krim gebracht wurden. Es gibt Fälle, in denen die Eltern dieser Kinder auf eigene Faust gereist sind, um ihre Kinder abzuholen. Es gibt auch Fälle, in denen Waisenkinder nach Russland gebracht werden.

STANDARD: Was ist die rechtliche Grundlage für all das?

Lubinets: Im Mai 2022 hat der Präsident der Russischen Föderation (Wladimir Putin, Anm.) einen Erlass unterzeichnet über ein vereinfachtes Verfahren für den Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Waisen, Kinder, denen die elterliche Sorge entzogen wurde, und geschäftsunfähige Personen, die ukrainische Staatsbürger sind und sich in den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine aufhalten. Dadurch wurde es möglich, das Adoptionsverfahren für ukrainische Kinder ohne die Zustimmung ihres Herkunftslandes durchzuführen, wie es das Völkerrecht vorsieht.

Dieses vereinfachte Adoptionsverfahren wurde auch von der russischen Präsidialbeauftragten für die Rechte von Kindern, Maria Lwowa-Belowa, benutzt, die über die Adoption eines Buben mit dem Namen Philip aus der Region Donezk berichtet hat. Gleichzeitig liegen uns keine Informationen über die Zahl der Kinder vor, die die russische Staatsbürgerschaft erhalten haben und auf dem Gebiet des Aggressorlandes adoptiert wurden.

STANDARD: Sie sprechen es an, dass da sehr viel unbekannt ist. Was weiß man über das weitere Schicksal dieser Kinder?

Lubinets: Diese Kinder werden in russischen Waisenhäusern und russischen Familien untergebracht, wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen und assimiliert werden. Unter den Methoden, mit denen Kinder aus der Ukraine entführt werden, sind zwei erwähnenswert: die Entführung von Kindern aus ukrainischen Internaten, die sich in den vorübergehend besetzten Gebieten befinden. Die Besatzer kümmern sich dabei nicht darum, dass viele dieser Kinder keine Waisen sind und lebende Eltern in der Ukraine haben. Die Besatzer bringen die Kinder in Internate im russischen Hinterland, wo sie oft Opfer von Missbrauch werden.

Diese Kinder werden in russischen Waisenhäusern
und russischen Familien untergebracht,
wo sie einer Gehirnwäsche unterzogen
und assimiliert werden.

Darüber hinaus verfolgt die Russische Föderation eine entsprechende Politik auf ihrem Territorium, ändert die Gesetzgebung, schafft Bedingungen und so weiter, insbesondere für die Möglichkeit, unsere Kinder nach russischem Recht zu adoptieren. Der Leiter des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), Filippo Grandi, bestätigte, dass Russland mit der Vermittlung ukrainischer Kinder zur Adoption systematisch gegen "grundlegende Prinzipien des Kinderschutzes" verstößt.

STANDARD: Was ist Ihrer Meinung nach das Ziel solcher Aktionen?

Lubinets: Diese Misshandlungen sowie die gesamte staatliche Politik der Russischen Föderation zielen darauf ab, die Kinder dazu zu bringen, sich zu assimilieren und sich nicht mehr mit der Ukraine zu identifizieren. Später werden diese Kinder dann in russischen Familien untergebracht. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat die Russische Föderation sogar ein Förderprogramm für Familien aufgelegt, die sich bereiterklären, ein ukrainisches Kind zu adoptieren. Das Schicksal unserer Kinder in Russland ist die vollständige Assimilierung der ukrainischen Kinder in die russische Gemeinschaft. Infolgedessen verlieren sie ihre ukrainische Identität. Unsere Kinder werden in russischen Familien untergebracht.

STANDARD: Gibt es irgendeinen Kontakt zu ihnen? Gibt es Verhandlungen über ihre Rückkehr?

Lubinets: Während eines Treffens in der Türkei versicherte uns die russische Ombudsfrau Tatjana Moskalkowa, dass Russland nicht den Wunsch hat, aus der Ukraine entführte Kinder, die nach Hause zurückkehren wollen, zurückzuhalten. Sie sagte jedoch, dass sie die Rückführung von ukrainischen Kindern unterstützen wird, wenn deren Angehörige an sie appellieren.

Dmytro Lubinets, Vorsitzender der Menschenrechtskommission des ukrainischen Parlaments, zerschneidet aus Protest gegen die damalige Führung des Europäischen Ombudsmann-Vereins seinen Mitgliedsausweis (siehe "Lesen Sie mehr" am Ende des Interviews).

Das Büro des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments arbeitet zusammen mit den zuständigen staatlichen Stellen ständig an der Frage der Rückführung zwangsweise abgeschobener Kinder in die Ukraine und der Zuerkennung des Status eines Opfers von Menschenhandel. Wir haben bereits in zwei Fällen diesen Status festgestellt und überwachen die Einhaltung der Rechte dieser Kinder bei ihrer Rückkehr in die Ukraine.

Wir haben wiederholt an die Kommissarin für Kinderrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation, Maria Lwowa-Belowa, und an die russische Ombudsfrau für Menschenrechte, Tatjana Moskalkowa, appelliert, die persönlichen Daten der auf das Territorium der Russischen Föderation abgeschobenen Kinder zu klären, haben aber keine Ergebnisse erhalten.

STANDARD: Und auf internationaler Ebene?

Lubinets: Um die Rückkehr der Kinder zu erleichtern und ihre illegale Adoption zu verhindern, haben wir uns wiederholt an den UN-Menschenrechtsausschuss, den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Globale Allianz der nationalen Menschenrechtsinstitutionen gewandt und persönliche Gespräche mit Vertretern von Organisationen geführt. Um Maßnahmen gegen die Bürger des Aggressorlandes zu ergreifen, die an der illegalen Deportation oder Entführung ukrainischer Kinder beteiligt sind, übermittelte der Kommissar Informationen an die Strafverfolgungsbehörden und das Ministerium für die Reintegration der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine.

STANDARD: Warum tut Russland Ihrer Meinung nach so etwas?

Lubinets: Russland löst seine eigenen demografischen Probleme durch die illegale Abschiebung ukrainischer Kinder. Ich betone, dass die Entführung unserer Kinder durch die Russische Föderation ein Zeichen von Völkermord ist. Vor kurzem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig entschieden, dass die Ereignisse im russisch besetzten Donbass seit dem 11. Mai 2014 in die Zuständigkeit dieses Gerichts fallen. Das bedeutet, dass der EGMR durch das Prisma der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten auch angebliche Verstöße gegen die Genfer Konvention und das Übereinkommen über das Verbot des Völkermords an ukrainischen Kindern berücksichtigen kann. (Stefan Schocher, 22.2.2023)