Auf einem Silbertablett bekommen ukrainische Kinder ihre russische Staatsbürgerschaftsurkunde überreicht. Die Sonne scheint, die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lvova-Belowa, steht daneben. Sie trägt ein adrettes himmelblaues Kleid, lächelt in die Kamera und posiert mit den Kindern wie mit Trophäen. Die Szenen eines Videos, das der ZDF am Mittwoch im Rahmen der Dokumentation "Die verschwundenen Kinder von Cherson – Auf der Spur eines Kriegsverbrechens" von Arndt Ginzel zeigt, suggerieren eine heile Welt. Man habe alles getan, um die ukrainischen Kinder möglichst rasch zu "vollwertigen Mitgliedern unserer Gesellschaft" zu machen, betont der Gouverneur von Moskau in dem Videoausschnitt.

Dabei sind es Szenen, die möglicherweise ein Kriegsverbrechen zeigen. Die Genfer Völkermord-Konvention von 1948 nennt als eines von fünf Merkmalen eines Genozids den "Transfer von Kindern". Der russische Präsident Wladimir Putin ermöglicht und begünstigt offen die Deportation ukrainischer Kinder bis nach Sibirien. Die Uno schätzt, dass über 1.800 Kinder und Jugendliche bislang aus der Ukraine nach Russland verschleppt wurden. Die Ukraine selbst rechnet mit über 15.000 verschleppten Minderjährigen.

Die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lvova-Belowa, soll unter anderem verantwortlich für die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland sein. Sie besuchte das SOS-Kinderdorf medienwirksam im Dezember.
Foto: Alexandr Kryazhev/imago

Suche nach den Eltern läuft seit November

Am Dienstag berichtete das ZDF-Magazin "Frontal", dass auch die internationale Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf mit Hauptsitz in Innsbruck in die systematische Verschleppung ukrainischer Kinder verstrickt sein soll. Der Sender beruft sich auf Bilder, die zeigen, wie ukrainische Kinder in die SOS-Kinderdorf-Siedlung Tomilino in der Nähe von Moskau gebracht werden. Dort sollen sie offenbar russischen Pflegeeltern übergeben worden sein. Tomilino gehört seit 1990 zu den SOS-Kinderdörfern.

"Uns wurden im November vergangenen Jahres 13 Kinder von den Behörden übergeben", bestätigt Jakob Kramar-Schmid, Pressesprecher bei SOS-Kinderdorf, dem STANDARD. Woher die Kinder stammten, habe man nicht gewusst und bis heute nicht in Erfahrung bringen können. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort hätten sich allerdings sogleich in der Zentrale gemeldet und den Verdacht geäußert, dass es sein könnte, dass diese Kinder aus der Ukraine entführt worden waren. Seit November habe man jedenfalls alles daran gesetzt, herauszufinden "wer und wo die Eltern dieser Kinder sind", versichert Kramar-Schmid.

Dies teilte die Organisation auch dem ZDF schriftlich mit. Weiteres wird in dem Schreiben laut "Frontal" versichert: "SOS-Kinderdorf ist gegen den Einsatz von Kindern für politische Zwecke. Wir unterstützen das nicht und werden diesen Fall prüfen."

Humanitäre Mission "zwischen den Fronten"

Natürlich habe man sich der Kinder annehmen müssen, sagt Kramar-Schmid. Schließlich sei es "Sinn und Zweck" von SOS-Kinderdorf, sich "um Kinder und Jugendliche zu kümmern, die in Not sind". Selbst unter den schwierigsten Umständen versuche man stets, das Beste für die Kinder herauszuholen. Dabei stehe man manchmal auch "zwischen den Fronten". SOS-Kinderdorf Russland arbeitet nach eigenen Angaben seit mehr als 30 Jahren in dem Land und betreut dort derzeit mehr als 600 Kinder. Auch in der Ukraine ist SOS Kinderdorf aktiv. Seit Kriegsbeginn habe man dort mehr als 74.000 Kinder unterstützt.

"Wir arbeiten auf der ganzen Welt und in vielen Krisengebieten, wo wir auf die Zusammenarbeit mit den Behörden angewiesen sind. Zum Handlanger des Regimes machen wir uns damit nicht, im Gegenteil", unterstreicht der Sprecher.

Beraubt um Heimat und Identität

Lvova-Belowa, der Kinderrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten Wladimir Putin, soll laut Recherchen von "Frontal" im Dezember 2022 das SOS-Kinderdorf Tomilino besucht haben. "Ein ganz normaler Behördenbesuch", dem man sich nicht entziehen könne, kommentiert Kramar-Schmid. Solche Besuche seien durchaus Usus, man könne nicht von einem "Propagandabesuch" sprechen.

Viele der Kinder werden in Russland zur Zwangsadoption freigegeben und kommen in russische Pflegefamilien, wo sie alles Ukrainische vergessen und stattdessen eine pro-russische patriotische Erziehung erhalten sollen. Keines der 13 sich in der Obhut des SOS-Kinderdorfs befindlichen Kinder stehe auf einer Adoptionsliste, versichert Kramar-Schmid. (Maria Retter, 22.2.2023)