Bob Dylan war Mitte der 1990er liebeskrank, todesfürchtig und in Bestform. Die Bootlegs-Serie "Fragments" untermauert das nachdrücklich.

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Es war die Wiederkehr eines lebenden Toten. Doch anders als hirntot und blutgeil herumtorkelnde Zombies kehrte dieser lediglich mit gebrochenem Herzen zurück. Mit schweren Beinen schlurfte er durch leere Straßen und bekannte sich im Eröffnungslied als liebeskrank: Love Sick.

1997 veröffentlichte Bob Dylan Time Out of Mind. Es war seit vielen Jahren sein erstes Album mit neuen, selbstgeschriebenen Songs. Entstanden waren diese unter dem Eindruck des Todes seines Freunds Jerry Garcia von der Band Grateful Dead, der 1995 gestorben war. Im Winter verzog sich Dylan auf seine Farm in Minneapolis und schrieb in der Kälte herzwärmende Songs. Viele behandelten die Vergänglichkeit, Liebeskummer, das Ende des Lebens, dabei war Dylan gerade erst Mitte 50 – aber gut, das war Garcia auch gewesen.

Schließlich traf er sich mit dem Produzenten Daniel Lanois und las ihm die Texte vor, wollte von ihm wissen, ob sie was taugten. Der war begeistert von der düsteren Lyrik – und als das Album erschien, erwies es sich als Meilenstein in Dylans Karriere. Ein Werk, das ihn vor dem Abgrund des Oldie-Zirkus zurück in die Relevanz katapultierte. Es war ein kommerzieller und künstlerischer Triumph, von drei Grammys und weltweitem Zuspruch gewürdigt. Songs wie Make You Feel My Love zählten bald zu Klassikern des an solchen nicht armen Œuvres Dylans und wurden vielfach gecovert – von Bryan Ferry bis zu Adele.

Magie des Augenblicks

In der bereits 17. Folge der Bootlegs-Serie, die Unveröffentlichtes aus Dylans verschiedenen Schaffensperioden aufbereitet, ist nun "Fragments" erschienen – die Time Out of Mind Sessions 1996–1997 –, das jeden Superlativ rechtfertigt.

Bob Dylan - Topic

Die Entstehung des Albums war für Dylan eher ungewöhnlich. Der legte nie großen Wert auf die Arbeit eines Produzenten. Bis heute geht er ins Studio und nimmt möglichst ohne Firlefanz seine Songs auf, versucht, die Magie des Augenblicks einzufangen. Ganz so, wie einst jene Musik entstanden ist, die er so liebt: alte Bluesplatten, Gospel, Folk, Country.

Die Sache mit der Geduld

Lanois hingegen ist ein Klangästhet, ein Tüftler. Er betreibt viel Aufwand, um Atmosphäre herzustellen, für ihn ist Studiotechnik ein weiteres Instrument, das es zu spielen gilt. Er bat Dylan ins Teatro, ein altes Kino in Kalifornien, das als Studio fungiert und in dem er im Jahr nach Time Out of Mind Willie Nelsons Album Teatro aus der Taufe hob, noch so ein Meisterwerk.

Doch Dylan war das Teatro zu nahe an Heim und Familie, also wanderte der ganze Tross rüber nach Florida, in die Criteria Studios, einen charmefreien Betonbau. Lanois erduldete das, weil er von Dylans Songs überzeugt war und sie in eine entsprechende Stimmung setzen wollte. Eine Geduldsarbeit, für die Dylan etwas Wesentliches fehlte: die Geduld.

Doch nachdem das Album eingespielt war und Lanois in der Postproduktion Zauber und Magie hinzufügte, Dylans Emotionen vertiefte und den Blues blauer drehte, war ein herausragendes Werk entstanden.

Sturschädel auf dem Parkplatz

Die widersinnig Fragments genannte Sammlung offenbart, dass diese Sessions eigentlich drei Meisterwerke zeitigten. Erst einmal wurde das Originalalbum remixt, Lanois’ Atmosphäre wurde zurückgenommen, was den Songs eine neue, direktere Anmutung verleiht, ohne die Originale zu beschädigen oder zu entstellen. Der Remix ergibt eine Art grimmigen Zwilling des ursprünglichen Albums.

MindOutofTime

Und dann sind da die verschiedenen Versionen des Materials. Sie offenbaren das Herantasten Dylans, sind bereits in früheren Stadien überzeugende Variationen, dass man nicht vor der Wahl stehen möchte, welche auf das finale Album kommen soll. Auf diese Weise bietet Fragments eine weitere Version des Albums, in der Titel wie Can’t Wait oder Not Dark Yet herausstechen, die in den Urschlamm des Blues oder in die Grenzgebiete des Deep Soul führen.

Schreiduelle auf dem Parkplatz

Zu den ausführenden Kapazundern im Studio zählten damals neben Dylans Band Typen wie der Tex-Mex-Keyboarder Augie Meyers, Alleskönner Jim Dickinson oder der Weltdrummer Jim Keltner. Schräge Vögel, alle auf ihre Art Genies, denen Lanois eine Richtung zu geben versuchte – während er sich draußen auf dem Parkplatz Schreiduelle mit Dylan lieferte.

Doch Lanois erwies sich als mindestens genauso stur wie Dylan und setzte sich am Ende durch – denn selbst ohne zusätzlichen Studio-Voodoo war er es, der Dylan den Weg wies und ihm half, diese Songs über den Berg zu hieven. Der Erfolg gab ihm recht, "Fragments" bestätigt ihn ein Vierteljahrhundert später nun noch einmal in seiner Hartnäckigkeit. (Karl Fluch, 23.2.2023)