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Dass verschiedene Weltbilder auch konträre Einordnungen des Weltgeschehens mit sich bringen, ist klar. Die Ergebnisse einer Studie der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) verdeutlichen jedoch das Ausmaß der unterschiedlichen Ansichten über Landesgrenzen hinweg.

Mit dem Titel "Der Westen vereint von der restlichen Welt getrennt" sollte die Befragung die internationale Meinung zur Weltpolitik nach einem Jahr Krieg in der Ukraine erfassen. Insgesamt wurden 19.765 Personen aus zehn europäischen Ländern, den USA, Indien, Türkei, China und Russland befragt.

Kriegsende in der Ukraine

Dass Russland und die USA von einem unterschiedlichen Kriegsende ausgehen, veranschaulichten bereits die beiden Reden der Staatschefs Biden und Putin am Dienstag. So ist es kaum verwunderlich, dass die Mehrheit der Befragten in den USA (34 Prozent) und Europa (38 Prozent) ein Kriegsende nur mit einem Sieg über Putin und der Zurückeroberung der ukrainischen Territorien befürwortet, auch wenn dies bedeutet, dass der Krieg noch länger andauern würde.

Grafik des ECFR-Endberichts.

29 Prozent der russischen Befragten befürworten jedoch die Zurückdrängung der westlichen Dominanz in der Welt allgemein, und 44 Prozent sprechen sich für ein sofortiges Kriegsende aus, mit der Folge, dass die Ukraine Teile ihres Staatsgebiets an den Kreml abgibt.

Eher überraschend hingegen ist der große Anteil der in Indien, Türkei und China befragten Personen, welcher ein sofortiges Ende des Krieges billigen und somit Gebietsverluste in der Ukraine in Kauf nehmen würde. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass 48 Prozent der Befragten im Nato- Mitgliedsstaat Türkei für ein sofortiges Ende des Krieges stimmten – selbst wenn dies bedeutet, dass die Ukraine Gebiete abtreten muss.

Im Westen würden viele Menschen den Konflikt in der Ukraine "als einen Kampf für Demokratie und eigene Sicherheit" betrachten und viele möchten "Russland für seine Aggression bestraft sehen", heißt es im ECFR-Bericht.

Russland und USA Freund oder Feind?

Die Beziehungen der befragten Länder zu den ehemaligen Großmächten im Kalten Krieg, Russland und USA zeigen deutliche Unterschiede: In allen befragten westlichen Staaten wird Russland als "Gegner" oder "Rivale" wahrgenommen. Im Umkehrschluss betrachten fast zwei Drittel (64 Prozent) der russischen Bevölkerung die USA als "Gegner". Die russische Wahrnehmung der EU als "Gegner" liege darunter und zwar bei 51 Prozent. Allgemein betrachte die russische Bevölkerung die USA und ihre europäischen Verbündeten als "Gegner" oder "Rivalen" in der Weltgemeinschaft – eine Sichtweise, die auch in China von vielen geteilt werde. Dort sähen 43 Prozent der Befragten die USA als "strategischen Rivalen".

Die Türkei sähe mit 55,2 Prozent Russland als notwendigen Partner und circa die Hälfte der Befragten in Indien betrachte Russland sogar als Verbündeten. In China beurteile die Mehrheit (78,9 Prozent) Russland entweder als Verbündeten oder als notwendigen Partner.

ECFR-Direktor und Co-Autor der Meinungsstudie Mark Leonard betont: "Das Paradoxe am Krieg in der Ukraine ist, dass der Westen zugleich geeinter und weniger einflussreich in der Welt ist als je zuvor."

Neues Machtgewicht

Nur wenige der Befragten glauben an eine Vorherrschaft der USA in Zukunft und rechnen mit einem neuen Machtverhältnis in der internationalen Politik. Laut den Autoren des Endberichts deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Russlands Aggression in der Ukraine die Entstehung der lange angekündigten post-westlichen internationalen Ordnung markiere. Das Erstarken der Weltmacht USA lasse sich etwa an der türkischen Vermittlerrolle zwischen Kiew und Moskau für das Getreideexportabkommen am Schwarzen Meer festmachen ebenso wie an Indiens verstärkten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland.

"Die Ergebnisse sind äußerst ernüchternd. Der transatlantische Westen, in dessen Mittelpunkt Europa und die Vereinigten Staaten stehen, ist geeinter, hat aber völlig versagt, wichtige Mächte der übrigen Welt wie China, Indien und die Türkei zu überzeugen", betont Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien an der University of Oxford. (APA, Tabea Hahn, 22.2.2023)