Leon (Thomas Schubert), Nadja (Paula Beer), Felix (Langston Uibel) und Devid (Enno Trebs, v. li.) betrachten den Waldbrand in Christian Petzolds "Roter Himmel".

Foto: Schramm Film / Christian Schulz

Der Berlinale-Wettbewerb begann unbefriedigend. Lange Wege quer durch die zugige deutsche Hauptstadt in lauwarme Filme: kein guter erster Eindruck. Doch der Wind beginnt sich zu drehen, und bis zur Preisverleihung am Samstag gibt es für die phänomenal besetzte Jury noch einiges zu entdecken. Neben Kristen Stewart urteilen unter anderem die Regisseurin Valeska Grisebach, die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani und der Hongkong-Chinese Johnnie To über die Filme.

To hat wegen seiner Äußerungen gegen totalitäre Regime zu Festivalbeginn für Aufruhr in Hongkong gesorgt, das seit Jahrzehnten chinesischer Einflussnahme ausgesetzt ist. Und Stewart, die sich als Filmnerd bezeichnet, kündigte an, sie werde nicht nur auf Inhalt, Form und Politik achten, sondern auch darauf, wie ihr Körper, ihre Zellen auf Filme reagieren.

Mittelmäßige deutsche Filme

Bleibt zu hoffen, dass ihre Zellen nicht zu oft genervt mit den imaginären Augen gerollt haben. Gelegenheit dazu hätten sie bei einigen der deutschen Beiträge im Wettbewerb gehabt. Von 19 Wettbewerbsfilmen kommen fünf aus der Bundesrepublik, alle von bekannten Festivalgrößen: Margarethe von Trotta etwa, deren aalglatter Ingeborg-Bachmann-Film außer Konkurrenz besser aufgehoben wäre. Oder Angela Schanelec, deren Ödipus-Stück Music ein um sich selbst kreisendes Rätsel aus streng gesetzten Bildern ist.

Leidenschaft versprüht indes Emily Atefs Romanverfilmung Irgendwann werden wir uns alles erzählen: Während der Wendezeit in Thüringen lässt sich eine 19-Jährige auf eine Affäre mit einem trinkenden Bauern ein. Sie hat eine Zukunft, er fühlt sich abgehängt. Leider wurde der Roman seiner brisanteren Seiten beraubt, geblieben ist etwas viel Schwülstigkeit.

Marlene Burow in "Irgendwann werden wir uns alles erzählen".
Foto: © Pandora Film / Row Pictures

"Roter Himmel" von Christian Petzold

Am Mittwochabend feierte Christian Petzolds neuer Film Roter Himmel Premiere. Der Wiener Thomas Schubert spielt darin Leon, einen Schriftsteller, dessen Nerven während eines Schreib-Retreats im Haus seines Freundes Felix blank liegen. Während Felix die Tage genießt, verkrampft sich Leon zusehends. Blockiert vor Nervosität wartet er auf seinen Verleger (Matthias Brandt, Schuberts Kollege aus der Serie King of Stonks).

Im Hintergrund droht ein nahender Waldbrand. Schubert ist die ideale Besetzung für den unsicher grantelnden Autor, nahbar wird seine Figur jedoch nicht. Auch seine Verliebtheit in die Saisonarbeiterin Nadja (Paula Beer) ist überaus vorhersehbar. Zu sehr stilisiert Petzold diese als ideale Künstlermuse: schön, klug, verspielt, rätselhaft – nicht von Ungefähr weckt sie Erinnerungen an Jeanne Moreau in Jules und Jim.

Migrantische Perspektiven fehlen

Nicht einmal ansatzweise spiegeln die deutschen Wettbewerbsfilme die Realität der Weltstadt Berlin. Migrantische Perspektiven sind in anderen Nebensparten zu finden, etwa in İlker Çataks Das Lehrerzimmer. Der Film zählt bei internationalen Verleihen zu einem der begehrtesten deutschen Beiträge – ein Festival ist eben immer auch Filmmarkt. Auch im deutschen Wettbewerb finden sich viele migrantische Filmschaffende und Themen. Schade, keiner davon ist im internationalen Wettbewerb zu sehen.

Wenig politische Dringlichkeit

In politischer Hinsicht bleibt der Wettbewerb des selbstbetitelten politischsten Festivals der Welt hinter den Erwartungen zurück. Die nordamerikanischen Beiträge Blackberry (Matt Johnson, Kanada) und Manodrome (John Trengove, USA) nehmen sich zwar dem Problem toxischer Männlichkeit an, verlaufen sich aber zum Teil in ziellosen Drehbüchern und Genrekonventionen.

Auch Rolf de Heers australischer Film The Invention of Kindness kommt allzu plakativ dystopisch daher, glänzt aber durch seine fesselnde Hauptdarstellerin Mwajemi Hussein und seine Bildsprache.

Mwajemi Hussein in "The Invention of Kindness".
Foto: Triptych Pictures

Die aktuelle Transgenderthematik greift der spanische Film 20.000 Especies of Abejas auf, indem er einem achtjährigen Kind folgt, das mit seiner Geschlechtsidentität kämpft. Ein ähnliches Familiensetting findet man in einem der besten Beiträge vor: Tótem der Mexikanerin Lila Avilés erzählt eindringlich von einem Kind, das, umgeben von charakterstarken Tanten, auf dem Geburtstag ihres krebskranken Vaters mit dessen Schicksal ringt.

Zu den Favoriten dieses Wettbewerbs ohne Höhepunkte – im Kritikerranking rangieren die meisten Filme im Mittelfeld – zählt außerdem Giacomo Abbruzzeses Disco Boy mit Franz Rogowski. Eine wilde Reise von Belarus über das Niger-Delta bis nach Frankreich in eindrucksvollen Bildern, mit Vitalic Elektro-Soundtrack. Lebendig und gefährlich wie kein anderer Wettbewerbsfilm bisher. (Valerie Dirk aus Berlin, 22.2.2023)