Putins Rede am 9. Mai 2022, dem Jahrestag des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg. Auch die Symbole des Kommunismus durften nicht fehlen.

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Dass der Kalte Krieg nie heiß wurde, ist ein Glücksfall in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zumindest für all jene, die nicht unter den zahlreichen Stellvertreterkriegen zwischen West und Ost zu leiden hatten. Doch bis spät in die 1980er-Jahre lag sie in der Luft, die jederzeit mögliche bewaffnete Konfrontation zwischen den beiden globalen Machtblöcken.

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Ein heißer Krieg erschien damals für die meisten Menschen greifbarer als kurz vor dem Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff. Das liegt auch an der ideologischen Prägung der Zeit, als die Nato noch dem Warschauer Pakt gegenüberstand. Es ging nicht einfach nur um Macht und Einfluss, sondern auch um einen Wettstreit der Ideologien: Auf der einen Seite stand der von der Sowjetunion dominierte kommunistische Machtblock, auf der anderen Seite der demokratische Westen mit seinem Bekenntnis zur Marktwirtschaft.

Im aktuellen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aber fehlt eine konzise ideologische Dimension. Genau das macht diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – umso unfassbarer. Auch dass Russland nach wie vor mit symbolischen Versatzstücken aus der Sowjetzeit arbeitet und etwa den roten Stern, das Symbol des Kommunismus, immer wieder gekonnt in Szene setzt, trägt zur Verwirrung bei. Längst nämlich sind die alten Symbole keine Zeichen der Staatsdoktrin mehr, sondern nur noch Elemente einer postmodernen Herrschaftskulisse.

Rückgriffe auf die Geschichte

Russlands Präsident Wladimir Putin jedenfalls sei "sicher kein Kommunist oder Sozialist", bekräftigt der Historiker Wolfgang Mueller, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Bei Putin geht es dabei nicht nur um die gesellschaftliche Ordnung der Gegenwart, sondern auch um Rückgriffe auf die Gründungsphase der Sowjetunion vor mehr als 100 Jahren.

"Die Machtübernahme der Bolschewiken beschleunigte die Zerfallsprozesse des russländischen Imperiums enorm", erklärt Mueller. Es sei kein Zufall, dass die Sowjetunion erst im Dezember 1922 gegründet wurde und nicht schon 1918: "Die Rote Armee musste Kiew viermal erobern, bis sie es dann endlich kontrollierte." Über das "destruktive Potenzial der Bolschewiken" zu Ende des Ersten Weltkriegs habe auch Putin sich immer wieder negativ geäußert.

Bemerkenswert sei in diesem Zusammenhang auch, dass es in Russland anlässlich des 100. Jahrestags der Machtübernahme der Bolschewiken keine Feierlichkeiten und keine großen Gedenkveranstaltungen gegeben habe. "Das ist an Russland völlig spurlos vorübergegangen", so Mueller.

Russlands Nazi-Narrativ

Dennoch: Symbole des Sowjet-Kommunismus waren auch im vergangenen Jahr bei der Siegesparade am 9. Mai zu sehen, bei der Russland traditionell des Sieges gegen Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gedenkt. Überhaupt spielt der damalige Triumph über die Nationalsozialisten auch im Narrativ, mit dem der Kreml seinen aktuellen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen will, eine zentrale Rolle: Bei seiner Rede zur Lage der Nation am Dienstag hat Putin die Regierung in Kiew einmal mehr als "Nazi-Regime" bezeichnet, das vom Westen unterstützt werde.

Abgesehen davon, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekanntlich ein – russischsprachiger – Jude ist: Die Zuschreibungen Putins sind weit davon entfernt, sich in ein stimmiges Gesamtbild zu fügen. So geißelte er in derselben Rede den Westen, wo es gleichgeschlechtliche Ehen gibt sowie die "Vorstellung eines genderneutralen Gottes" – üblicherweise keine ideologischen Steckenpferde von Nazi-Propagandisten.

Auf russischer Seite, sagt Wolfgang Mueller, gebe es also kein festgefasstes ideologisches System, keine allumfassende Ideologie, wie es der Marxismus war, sondern eher eine Agglomeration verschiedener weltanschaulicher Elemente: "Sie hat Wurzeln einerseits im traditionell russischen, ultraorthodoxen Imperialen, andererseits aber auch in der Sowjetunion, in der wiederaufgeladenen Bipolarität."

"Fetisch der Großmachtvorstellung"

Das "Missing Link zwischen dem Putinismus und der Sowjetunion" sieht Mueller "im Fetisch der Großmachtvorstellung. Das ist der gemeinsame Nenner." Die Idee, dass die Welt in zwei Blöcke gespalten sei und Russland sich in dieser Welt behaupten müsse, komme aber nicht erst aus dem Kalten Krieg: "Sie geht im orthodoxen Denken in Russland bis ins 15. Jahrhundert zurück, bis zum Scheitern der Kirchenunion und der anschließenden starken Abschottung", erklärt der Osteuropa-Historiker. Diese Zwei-Lager-These komme im 19. Jahrhundert bei konservativen Denkern wie Fjodor Tjuttschew wieder, und 1947 sagten es dann auch die Kommunisten anlässlich der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros: Die Welt sei "in zwei Lager geteilt".

Russland müsse in dieser Vorstellung stark sein, eine Großmacht, einheitlich, konservativ, loyal, traditionelle Werte hochhaltend – und somit antiliberal, so Mueller. Der liberale Westen hingegen werde als feindlich, aggressiv, dekadent, schwach und oberflächlich imaginiert.

Ein klar umrissener ideologischer Konflikt ergibt sich daraus nicht. Sehr wohl aber ein auch weltanschaulich motivierter Angriff, in dem die Ukraine, die für Putin zur "russischen Welt" gehört, zum blutigen Schlachtfeld wurde. (Gerald Schubert, 24.2.2023)