Marina Owsjannikowa muss noch heute darüber schmunzeln: Freunde hätten sie gefragt, ob sie lieber durch einen Giftanschlag oder durch einen inszenierten Autounfall des russischen Geheimdienstes sterben möchte. Die noch sehr lebendige Russin sitzt gerade im Auto, ohne über die App zu sagen, wo. Sie sei vorsichtig, habe oft Angst, erzählt sie auf Englisch.

Das hindert sie nicht daran, oft und gerne zu lachen. Etwa wenn man sie fragt, ob sie eine Heldin sei. "Nicht doch", wehrt die Journalistin ab, ihre blonde Mähne schüttelnd. Ein bekannter US-Regisseur wolle zwar ihre Geschichte verfilmen. "Aber das macht einen noch lange nicht zur Heldin." Immerhin hat sich die 44-Jährige einer großen Redaktion, ihrer ganzen Nation und vor allem einem gnadenlosen Polizeistaat entgegengestellt. Nur sechs Sekunden lang – aber das war eine gefühlte Ewigkeit.

Marina Owsjannikowa (rechts) bei ihrer riskanten Protestaktion.
Foto: IMAGO/R4924_italyphotopress

"Kein Krieg"

Owsjannikowas zweites Leben begann am 14. März 2022 in der Sendezentrale des populärsten russischen Fernsehsenders Perwy Kanal. Für internationale News zuständig, hatte die Redakteurin im Ärmel ihres Mantels ein Plakat in die Redaktion geschmuggelt. Es ist 21.01 Uhr, als sie an einem Polizisten vorbei in das Livestudio stürzt und hinter der Präsentatorin das Transparent entrollt. "No war" – "kein Krieg" steht darauf, darunter auf Russisch: "Stoppt den Krieg. Glauben Sie der Propaganda nicht. Sie werden hier belogen."

Als Owsjannikowa ihren Appell auch noch in die Kameras schreien will, erkennt sie ihre eigene Stimme nicht mehr – so sehr steht sie unter Druck. Für Millionen TV-Zuschauer dauert der Spuk sechs Sekunden; dann wird die Sendung abrupt untergebrochen und die Journalistin abgeführt. Ihre Kolleginnen und Kollegen starren sie entgeistert an. Sie selbst, die aus Angst zwei Tage nicht gegessen und geschlafen hatte, ist nun überrascht über ihre Kühnheit. Sie hat gerade noch Zeit, ihren Akt in den sozialen Medien zu erklären: "Was gerade in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Russland ist das Aggressorland. Diese Politik hat nur eine Person zu verantworten. Und diese Person ist Wladimir Putin."

Stundenlanges Verhör

Die Festgenommene wird auf der Wache stundenlang verhört. Wer ihr Auftraggeber sei, fragen Polizisten in Zivil, die per Telefon ständig Instruktionen erhalten. "Wer hat Sie bezahlt? Für wen arbeiten Sie?" Owsjannikowa kann nur immer wieder bekräftigen, sie habe allein gehandelt. Das Plakat habe sie auf ihrem Küchentisch gebastelt.

Ganz allein ist sie nicht, aber das weiß sie nicht. Vor dem Sendehaus wartet ein Unbekannter mit weißen Rosen, um ihr zu ihrem Mut zu gratulieren. Das Video ihres kurzen und doch historischen Auftritts geht bereits um die Welt. In den Moskauer Machtsphären löst es einen Sturm aus. Ein Ermittler sagt Stunden später zur verblüfften Frau, der französische Präsident Emmanuel Macron habe ihr politisches Asyl angeboten.

Im sicheren Frankreich.
Foto: EPA/MOHAMMED BADRA

Ein anderer fragt sie: "Wollen Sie für uns arbeiten?" Alles, nur das nicht. Owsjannikowa staunt, dass sie nicht gleich in eine Haftzelle geworfen wird. Das Wort "Krieg" zu benützen kann in Moskau seit März 2022 Gefängnis bis zu fünfzehn Jahren bedeuten. Die Russin erhält später nur eine Buße von etwa 300 Euro. "Offenbar glaubte der Kreml, ich sei verrückt und würde mich nicht trauen, weiter Widerstand zu leisten", sagt die umstandslos gefeuerte TV-Redakteurin. "Putins Leute wollten zudem verhindern, dass mein Fall Wellen schlägt und ich im Westen zu einer Märtyrerin stilisiert werde. Dafür setzten sie Fake News in die Welt, um meine Glaubwürdigkeit zu untergraben und meinen Ruf zu zerstören."

Gestreute Gerüchte

Zuerst hieß es, Owsjannikowa sei eine britische Spionin; dann kursierten in den sozialen Medien Gerüchte, sie stecke mit dem Geheimdienst FSB unter einer Decke. Sogar westliche Medien wie die deutsche Zeitung "Die Welt", für die sie nach ihrer Protestaktion freischaffend geschrieben hatte, gingen auf Distanz zu ihr.

Am meisten schmerzte Owsjannikowa die Reaktion ihrer russischen Mutter. "Warum hast du nichts gesagt, als die ukrainischen Nazis die Russen im Donbass ausrotteten?", attackierte sie ihre Tochter, die einen ukrainischen Vater hat. Ihre Mutter sei so alt wie Putin und wie Millionen durch die Kreml-Propaganda "zombifiziert", also mit einem toten Hirn. Von morgens bis abends höre ihre Mutter Putins Chefpropagandisten Wladimir Solowjew zu, der sie lehre, die Ukrainer und Amerikaner zu hassen. Solowjew sei ihr die wichtigste Autorität, gegen die sie, ihre Tochter, erfolglos anrenne.

In ihrem soeben auf Deutsch erschienenen Erfahrungsbericht "Zwischen Gut und Böse – wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte" schildert Owsjannikowa ausführlich, wie in Moskau die öffentliche Meinung manipuliert wird. Bevor sie selbst ihr Plakat in die Kameras hielt, hatte die Sprecherin gerade "gemeldet", die ukrainischen "Nationalisten" hätten in Donezk Dutzende von Zivilisten und Kindern getötet. Russische Truppen hätten dagegen in Mariupol Zivilisten gerettet, die von ukrainischen "Neonazis" als Geiseln gehalten worden seien. Kein Wunder, meint Owsjannikowa, würden in diesem kontinuierlichen Propagandastrom "Millionen von Russen zu Horden grausamer Henker".

Von ihren ehemaligen Redaktionskolleginnen und -kollegen glaube nur "ein kleiner Teil" an die nationalistischen Verdrehungen, die Perwy Kanal selbst sende, glaubt Marina Owsjannikowa. "Viele sind zynisch, und sie wissen, dass sie keinen anderen Job finden, wenn sie gegen die Weisungen von oben handeln, und entlassen werden. Sie beziehen Supersaläre, die im vergangenen Jahr um 50 Prozent erhöht wurden." Es gebe in Russland allerdings Fälle von Journalistinnen, die seit letztem März offiziell aufgehört hätten, weil sie die zunehmende Kriegsrhetorik nicht mehr ertrügen.

Im Herbst wurde es Owsjannikowa zu heiß in Russland. "Die Behörden merkten nach einer weiteren Protestaktion in Moskau, dass ich keine Ruhe geben würde", lacht sie. Ihr Anwalt rechnete mit einer baldigen Anklage, die in mehrere Jahre Haft münden konnte. Polizisten des "Ministeriums für Notfallsituationen" holten die widerspenstige Russin bereits einmal zu einem Verhör ab.

Im Oktober beschloss sie zu fliehen, als ihr der französische Verband Reporter ohne Grenzen in Paris zu helfen versprach. Als sie Richtung Westen aufbrach, musste sie ihre eigene Mutter täuschen, um nicht von ihr verraten zu werden. Ihrer elektronischen Fußfessel, die sie neuerdings tragen musste, entledigte sie sich mit einer Drahtschere. An einem Freitagabend, wenn viele russische Zöllner in ihre Datscha verreist und die Grenzübergänge dünn besetzt sind, setzte sie sich mit ihrer Tochter in ein Nachbarland ab. Welches, will sie nicht sagen.

In Sicherheit

Heute lebt Owsjannikowa in Frankreich, wo sie von dem Reporterverband betreut wird. Zum Jahrestag des Kriegsbeginns hin hat sie ihr erstes Buch geschrieben. Für die Zukunft verfolgt sie zwei Projekte: eines zur Förderung der Redefreiheit in Russland, ein anderes zur Unterstützung ukrainischer Mütter, "die außer ihren Kindern alles verloren haben", wie sie sagt. Über den Krieg schreibt sie in ihrem Erfahrungsbericht: "Ich möchte, dass Russland diesen Krieg so schnell wie möglich verliert und die Ukraine alle annektierten Gebiete zurückerhält." Das Kreml-Regime halte sich nur mit einer kolossalen Propaganda an der Macht. "Putin hat ein riesiges Lügengebäude um sich herum errichtet, aber es ist nur eine Pappkonstruktion. Und diese Konstruktion wird bald in sich zusammenfallen." (Stefan Brändle aus Paris, 23.2.2023)