In der Woksalna-Straße in Butscha, wo im vergangenen Frühling russische Panzerwracks dahinrosteten, wird der Straßenlärm ein Jahr nach Kriegsbeginn von stetigem Hämmern und Bohren übertönt: Kaum ein Dach, das nicht gerade neu gedeckt wird, kaum ein Haus, das nicht von einem Bauzaun eingehegt ist.

In dem Kiewer Vorort, dessen Name seit dem Massaker an ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten in den ersten Kriegswochen zu einer Chiffre für die Brutalität der russischen Kriegsführung wurde, geht augenscheinlich voran, was in den meisten anderen Teilen der Ukraine noch bevorsteht: An allen Ecken und Enden werden Schäden beseitigt, wird Zerstörtes wiederaufgebaut. Während vor allem im Osten intensiv gekämpft wird und Russland unablässig Angriffe auf die Infrastruktur der Ukraine fliegt, macht man sich aber auch auf höherer Ebene längst Gedanken darüber, wie es nach dem Krieg weitergeht. Doch: Niemand weiß, wann er endet, wie viele Häuser, Brücken und Kraftwerke noch zerstört werden – und wer den Krieg am Ende gewinnt.

Butscha im Frühling 2022 – und heute.
Foto: EPA/OLEG PETRASYK

"Solange der Krieg andauert, ist an einen Wiederaufbau, der über das akut Notwendige hinausgeht, eigentlich nicht zu denken", sagt der Innsbrucker Russland-Kenner Gerhard Mangott dem STANDARD.

Doch was steht bisher zur Diskussion? Wie viel würde ein Wiederaufbau der Ukraine überhaupt kosten – und wer soll das bezahlen?

  • Langfristige Perspektive
    Von einer "Generationenaufgabe" sprach Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz, der Ende Oktober Gastgeber einer internationalen Wiederaufbaukonferenz in Berlin war. Es gehe nicht nur darum, zerstörte Kraftwerke wieder aufzubauen, sondern auch darum, den jungen Ukrainerinnen und Ukrainern Chancen für eine Zukunft zu bieten. Und damit, so Scholz, gelte es besser heute als morgen zu beginnen. Jeder Euro, jeder Dollar, jedes Pfund, jeder Yen sei eine Investition in die Ukraine, aber auch in die Demokratie, fügte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an. Es brauche einen neuen Marshallplan, sagte Scholz – und spielte damit auf die US-Hilfe für Westeuropa nach 1945 an.

  • Heikle Kompetenzen
    Organisatorisch ist man diesem Ziel einen Schritt näher gekommen: Im Jänner riefen die G7-Staaten die sogenannte Multilaterale Plattform zur Geberkoordination ins Leben. Sie soll sicherstellen, dass das Geld dort ankommt, wo es Priorität hat. Beteiligt an der Plattform sind neben den G7 – Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, Großbritannien, USA – auch die EU sowie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank. "Anders als beim Marshallplan gibt es jetzt aber sehr viele Partikularinteressen", sagt der Linzer Wirtschaftsprofessor Michael Landesmann, der sich in seiner Forschung der Ukraine gewidmet hat. "Die USA sind eher auf den militärischen Bereich fokussiert, die EU wird vor allem eine wichtige Rolle spielen, wenn es um den zivilen und wirtschaftlichen Aufbau geht", sagt Landesmann. Auch wenn derzeit vor allem kurzfristige Nothilfen nötig seien, sollten bereits jetzt langfristige Investitionen in die Wege geleitet werden, fordert er.
Vor einem Wiederaufbau muss der Krieg enden.
Foto: AP Photo/Emilio Morenatti
  • Riesige Summen
    Dass der Wiederaufbau nicht nur zeitlich, sondern auch finanziell eine Mammutaufgabe darstellt, steht fest. Unter der Annahme, die intensivste Phase des Krieges dauere bis Mitte 2023 an, schätzt das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche den Bedarf auf 385 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Österreichs betrug 2022 knapp 450 Milliarden Euro. Der ukrainische Premier Denys Schmyhal sprach im Februar von 564 bis 705 Milliarden Euro. Anderen Schätzungen zufolge könnte der Wiederaufbau gar eine Billion US-Dollar kosten – etwa 940 Milliarden Euro. Das Problem: Solange man den Ausgang und die Dauer des Krieges nicht kennt, sind die Zahlen nur ungefähre Richtwerte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

  • Schnelle Hilfe
    Dass doppelt hilft, wer schnell hilft, ist den westlichen Geldgebern freilich bewusst. 2022 hat die Ukraine laut eigenen Angaben rund 30 Milliarden Euro an Hilfen erhalten. Für heuer sind auf G7-Ebene abermals 30 Milliarden vorgesehen, 18 Milliarden steuert die EU als Darlehen bei, das Gros soll die wirtschaftliche Stabilität in dem kriegsgeschüttelten Land sichern. Geld, das dringend benötigt wird: Um Schulen und Krankenhäuser offen halten zu können, Gehälter für Lehrpersonal und Beamten zahlen zu können und auch weiterhin Pensionen auszuzahlen, braucht die Ukraine etwa drei bis vier Milliarden Euro monatlich. Seit der Invasion ist die Wirtschaftsleistung aber um ein Drittel eingebrochen, für 2023 wird mit einem Budgetloch von 36 Milliarden Euro gerechnet. Und auch die demografische Lage – schon vor dem Krieg wanderten viele aus – macht allzu langfristige Planungen schwierig: "Es sollten Programme überlegt werden, um die Rückkehrmigration zu unterstützen", sagt Ökonom Landesmann. Gefragt ist aber auch die Privatwirtschaft: Kürzlich kamen rund 300 Unternehmen in Warschau zusammen, um im Rahmen der Fachmesse Rebuild Ukraine Kontakt mit ukrainischen Partnern zu knüpfen – darunter auch aus Österreich.

  • Nötige Transparenz
    Schon bei der ersten Wiederaufbaukonferenz im schweizerischen Lugano im Sommer hatte der Westen die Ukraine auf den Kampf gegen Korruption eingeschworen – "Build back better" hieß das Motto. Nicht ohne Grund: Im Korruptionsranking von Transparency International belegt die Ukraine Rang 116 von 180 Ländern – nur Russland schneidet in Europa schlechter ab. Die für 2023 vorgesehenen 18 EU-Milliarden sind daher streng an politische Auflagen im Land gekoppelt, gefordert wird etwa eine Neubesetzung der Antikorruptionsbehörden. Landesmann sieht Licht am Ende des Tunnels: Da viele alte Industriezweige im Osten zerstört wurden, sei der Einfluss der Oligarchen inzwischen geringer.

Freilich: Wer am Ende den Krieg gewinnt und danach für den Wiederaufbau geradesteht, steht ein Jahr nach Kriegsbeginn in den Sternen. Richtig teuer wird es für Kiew, sollte die Armee den verwüsteten Donbass zurückerobern, sagt Politologe Mangott: "Dort wird der Bedarf an Infrastruktur, aber auch im Wohnungsbereich enorm sein." (Florian Niederndorfer, Nicolas Dworak, 24.2.2023)