Wer würde bei dieser Aussicht nicht gerne aufstehen?

Screenshot: Tiktok, geteilt von @audrey.audreyyy

Des einen Freud, des anderen Leid: Aufstehen fällt nun wirklich nicht jedem leicht. Während die einen sich mühselig und widerwillig aus dem warmen Polsterberg schälen, springen die anderen voller Elan aus dem Pyjama und in die Laufschuhe, bevor man überhaupt "Kaffee" röcheln kann. Ähnlich stark dürften auch die Meinungen zu einem aktuellen Tiktok-Phänomen auseinandergehen – denn bei #MorningRoutine geht es darum, sich bei seinem privaten allmorgendlichen Ritual zu filmen und dies für alle Welt sichtbar zur Schau zu stellen.

Von Zähneputzen bis zum Stretching ist alles dabei

Dabei ist wirklich alles erlaubt: vom unprätentiösen "Zusammenrichten" für die Schule bis zur aufwendig choreografierten Prozedur – inklusive Meditation, Yoga und Stretching. Oft sind die trendbewussten Morgenmenschen dabei schon beim Workout besser gekleidet, als manch einer es während des ganzen restlichen Tages schafft.

Aber auch weniger ambitionierte Aktivitäten werden akribisch dokumentiert. Man filmt sich beim Zähneputzen, Schminken, Wäschewaschen oder beim Bettenmachen. Die Frühaufsteher mixen Smoothies, essen frisches Obst oder nehmen sich Zeit für einen "mental health walk", bevor ihr Tag erst so richtig beginnt. Manche bedenken sich selbst im Spiegel mit motivierenden Botschaften, andere teilen Videos, in denen sie Gesichtscremes auftragen oder ihre Augenbrauen stylen.

Aus "nine to five" wird "five to nine"

Falls Sie sich nun fragen, wie man das alles vor einem normalen Schul- oder Arbeitstag unterbringen soll: indem man früh aufsteht, natürlich. Besonders populär ist die #5to9-Routine, die sich – man ahnt es bereits – auf die Zeit von fünf bis neun Uhr morgens bezieht.

Der 22-jährige Kevin Galabay ist einer dieser Menschen, die sich in derart frühen Morgenstunden schon zum Gewichtheben, Tagebuchführen und Lesen aufraffen können. Dafür werden seine Videos zum Teil mit über 1,5 Millionen Aufrufen belohnt. "Bis um neun Uhr früh wäre ich schon wieder bereit zum Schlafengehen", kommentiert ein User, der die Morgenroutine wohl noch nicht im selben Ausmaß verinnerlicht hat.

Kevin Galabay beim Morgensport.
Screenshot: Tiktok, @kevingalabay

Morgenroutine: von Youtube zu Tiktok

Der Videotrend um die eigene Morgenroutine startete eigentlich auf Youtube, sagt Prof. Crystal Abidin, Digitalanthropologin und Gründerin des "Tiktok Research Network". Während der Pandemie stiegen die Nutzerzahlen von Tiktok rasant an, und die "Creators", die bis dahin ihre Follower mit Eindrücken aus ihrem "aufregenden Alltag" bei Laune hielten, waren nun auf bodenständige und wenig spektakuläre Inhalte angewiesen. Zu diesem Zeitpunkt übersiedelte der Trend auf die neue, populäre Videoplattform – und schaffte neue Möglichkeiten für Influencerinnen und Influencer.

Motivierend und inspirierend

Die Influencerin Samantha Tannor sieht die morgendlichen Videos als Möglichkeit, eine Beziehung zu seinen Followern aufzubauen und neue zu gewinnen. Das gemeinsame Aufstehen verbindet die Menschen, oft geht es auch einfach darum, sich ungeschminkt und natürlicher zu zeigen, als das sonst bei den perfekt durchgeplanten Beiträgen der Fall ist.

Laut Kevin Galabay und anderen Content-Creators sollen die Videos vor allem andere motivieren und inspirieren. Natürlich seien derart durchgeplante Routinen aber "nicht für jedermann geeignet", erkennt Galabay gegenüber der "Washington Post" an. Auch seien einige wieder davon abgekommen, bereits um fünf Uhr aufzustehen, um eine aufwendige mehrstündige Routine "unterzubringen".

Morgenstund' hat Gold im Mund

Ganz selbstlos ist dieser Trend natürlich nicht (immer). Produkte können auf diesem Weg viel authentischer und natürlicher beworben werden. Die Bezeichnung "Morgenroutine" suggeriert, dass man ein bestimmtes Produkt spontan jeden Tag nutzt. "Es wird der Eindruck erweckt, man sei ein treuer 'Anhänger' dieser Marke", sagt Abidin im Interview mit dem "Guardian". Produktrezensionen gewinnen so an Glaubwürdigkeit.

Wissen, wann es genug ist

Wie so oft gilt es, den idealen Mittelweg zu finden. Auf der einen Seite kann es durchaus reizvoll sein, einen Einblick in das Leben anderer Menschen zu bekommen, sagt Jaqueline Nesi, Psychiatrie-Professorin an der Brown University. Besonders Teenager und junge Erwachsene zeigten ihr zufolge aber häufiger Anzeichen von Depressionen, wenn sie viel Zeit auf sozialen Medien verbringen und sich dort mit anderen vergleichen.

Melina Blanco, eine Tiktokerin aus Massachusetts, fasst dies recht einfach zusammen: "Wenn du das Gefühl hast, dass du dich zu viel vergleichst, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem du dein Handy ausschalten musst." (Lisa Haberkorn, 24.2.2023)