Leben im Fadenkreuz der Mächtigen: Eva Viežnaviec.

Foto: Dirk Skiba

All diese Gewalt, Brutalität, so viele Tode und Morde. Es ist schwer, diesem blutigen, düsteren Schicksalsstrom zu entrinnen, der sich unheilvoll durch die Sümpfe und Wälder frisst und alles mit sich reißt und wie schwarzes Gift das Leben der Menschen von Palessje verseucht. So heißt die mystische Region im Süden von Belarus, der bereits der belarussische Klassiker Ivan Melesch mit seinem epischen Werk Die Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Eine Region, die – so sagen die Belarussen – auch prägend für ein Volk war, das sich immer wieder vor neuen Armeen, Kriegsherren und Tyrannen in die Sümpfe zurückziehen musste, um Krieg und Mord zu entgehen.

Welt des Morasts

Dieses Zurückweichen, kann man sagen, hat sich auch in der politischen Kultur der Belarussen niedergeschlagen, die sich den meisten fremden Mächten schutzlos ausgeliefert sahen – der Rückzug, das Wegducken als Überlebensstrategie, die mit besser organisierten Mächten und Armeen vor allem mit dem Ersten Weltkrieg und den Sowjets obsolet wurde. Palessje ist auch der Schauplatz des zweiten Buches der belarussischen Autorin Eva Viežnaviec, die eigentlich Sviatlana Kurs heißt und die in dieser Region aufgewachsen ist. In einem Interview sagte sie, dass sie nichts erfinden musste für diese Novelle, die den Leser mit der Wucht eines Vorschlaghammers trifft.

Viežnaviec macht sich auf die Suche dessen, was der unaufhörliche Horror mit den Menschen macht, wie Gewalt Generationen und deren Lebenswege prägt. "Nichts hält sich hier, nichts, ganz egal, ob die Erde morastig oder ausgetrocknet ist." Zu dieser Einschätzung über ihre Heimat kommt die Erzählerin Ryna an einer Stelle in diesem gewaltigen und trotz aller Brutalität hochpoetischen Buch. Zu Beginn der Geschichte kehrt sie zurück in ihre Heimat, in die Welt des Morasts.

Sie ist eine Entwurzelte und eine Alkoholikerin. Sie hat versucht, sich geografisch und geistig von den Geschichten und von der Geschichte ihrer Heimat zu lösen, die sie im Innersten allerdings weiterhin umtreiben und ihr Lebensgleichgewicht nachhaltig stören. Aufgewachsen ist siebei ihrer Großmutter Darafeja. Ihre Geschichte und die ihrer Enkelin Ryna bilden sozusagen den Spiegelpunkt des Buches. Darafeja war eine Scheptucha, eine Flüsterin, die Gebrechen und Krankheiten durch das Flüstern von Wortformeln zu heilen versucht. Es ist eine archaische Heilkultur, die bis heute in der belarussischen Provinz praktiziert und von der Großmutter an die Enkelin weitergeben wird.

Politische Emanzipation

Das Mystische, das Unerklärliche, Belarus’ Welt der märchenhaften Fabelwesen und Naturgeister, bildet den Unterbau von Was suchst du, Wolf?: "An Lichtmess beteten Großmutter und ich stets für die Sümpfe, dass die Sumpfgeister und Wassermänner keine Schafe holten und keine Betrunkenen ersäuften."

Die Lebensgeschichte von Darafeja liest sich wie eine Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, die den belarussischen Kulturraum besonders hart traf: der Erste Weltkrieg, polnische Herrschaft, die Bolschewiken, die Zeit der stalinistischen Säuberungen, dann der Horror des Zweiten Weltkriegs, deutsche Besatzung, Holocaust, der Partisanenkampf, der auch die lokale Bevölkerung terrorisierte – Viežnaviec gelingt es, diese Zeit der ungeheuerlichen Verwerfungen und Finsternis in kurzen Episoden, in einer prägnanten Sprache, angefüttert mit historischen Details, so lebendig werden zu lassen, dass dem Leser schwindelig wird bei einer derart komprimierten Zeitreise.

Die Bewahrerinnen der Sprache

Eva Viežnaviec, "Was suchst du, Wolf". Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann. € 22,70 / 144 S. Zsolnay, Wien 2023.
Foto: Verlag

Die Autorin zeigt anschaulich, wie sehr die Belarussen oder gerade die Juden zum Spielball im Machtstreben der wechselnden Herrscher, Autoritäten, Opportunisten oder Wichtigtuer wurden, wie wenig das Leben im Fadenkreuz der Mächtigen wert war. An dieser Stelle sei betont: Tina Wünschmann ist es zu verdanken, dass dieses Buch, dem man viele Leser wünscht, nun auch bei uns zugänglich ist. Sie hat im Deutschen eine äußerst packende und fließende Form der Übertragung gefunden.

Diese Geschichte ist aber nicht nur eine Aufarbeitung der wechselvollen, hierzulande immer noch unbekannten Geschichte von Belarus, sondern vor allem eine kraftvolle Huldigung der belarussischen Frauen, ihrer Stärke und emanzipierten Lebensgewandtheit. Was sich auch bei den historischen Protesten von 2020 zeigte, als die Frauen eine führende Rolle in diesem politischen Selbstermächtigungsprozess übernahmen.

Frauen sind aber auch, so lässt es sich nach der Lektüre interpretieren, die Bewahrerinnen von Sprache, Kultur und Geschichten, die Belarus’ wechselnde Beherrscher immer wieder ausradieren wollten, um eigene Narrative zur Machtsicherung durchzusetzen. Da ist es folgerichtig, dass Viežnaviec 2021 den renommierten belarussischen Jerzy-Giedroyc-Preis für ihr Buch erhalten hat – als erste Frau. (Ingo Petz, 24.2.2023)