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Als Ahmed Aytac noch Videos auf Tiktok lud, gab’s dafür oft bis zu 150.000 Klicks. Dabei waren die Themen des Jusstudenten für die Kurzvideoplattform eher sperrig: Wie kann ich meine Glückspielverluste zurückfordern? Was tun, wenn ich eine Besitzstörungsklage bekomme? Aber Ahmed vermittelte die Rechtsfragen locker, die Followerzahlen stiegen. Doch seit kurzem ist Ahmed auf Tiktok gar nicht mehr zu sehen.

"Mir wurde es irgendwann zu stressig, es kamen viele Kommentare unter meine Videos rein", sagt der 23-Jährige. "Wenn ein Clip viral geht, wird es schwierig, die Flut an Reaktionen zu moderieren." Dafür hätte ihm irgendwann die Zeit gefehlt – neben dem Studium der Rechtswissenschaften ist er politisch und aktivistisch engagiert. Mit seinem Social-Media-Aus ist er – noch – eine Ausnahme.

Ahmed Zeyd Aytac (23) sieht sich als politisch und aktivistisch, seine Meinung äußert er auf Social Media. Tiktok nutzt er aber nicht mehr, es wurde ihm irgendwann zu viel.
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"Wir sind vor allem eins: fucking Social-Media-süchtig", schreibt die 22-jährige Autorin und Content-Creatorin Valentina Vapaux in ihrem 2022 erschienenen Buch Generation Z – Zwischen Selbstverwirklichung, Insta-Einsamkeit und der Hoffnung auf eine bessere Welt über die Probleme der zwischen 1995 und 2010 Geborenen. Tiktok, Instagram, Discord und Youtube seien Teil des Alltags der Jungen, doch Studien würden belegen, dass psychische Probleme zunehmen. Wer häufiger und länger durch die Feeds scrolle, sei tendenziell unglücklicher.

Der soziale Exodus

Das belegen auch die Enthüllungen der amerikanischen Whistleblowerin Frances Haugen, die vor dem US-Kongress über die Machenschaften des Facebook -Konzerns aussagte. Das größte Problem sei das Design des Algorithmus, der die vorwiegend jungen Nutzerinnen und Nutzer regelrecht süchtig mache.

Interne Untersuchungen von Facebook-Forschern zum Einfluss von Instagram auf junge Nutzer ergaben zudem, dass die bildlastige Plattform bei zahlreichen Teenagern – vor allem Mädchen – die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper verstärke, was wiederum Auswirkungen auf die psychische Gesundheit habe. "Wir sind eine traurige Generation mit glücklichen Bildern", ist das Fazit der Autorin Vapaux in ihrem Buch.

Es gibt deshalb eine Gegenbewegung, manche Medien schreiben zugespitzt bereits von einem Social-Media-Exodus der Generation Z. Ist dem wirklich so? Ziehen sich die Jungen von den Plattformen zurück? Oder chattet, postet und überträgt der Großteil weiterhin sein Leben im Netz? Und wenn ja: Warum?

Fakt ist: Das Liebäugeln mit einem Ausstieg aus Social Media trendet – ironischerweise ausgerechnet auf Social Media. 600 Millionen Aufrufe zählt der Hashtag #FlipPhone, mit dem junge Menschen die Vorzüge eines internetlosen Klapphandys preisen. Der Hashtag #Y2KAesthetic, der Rückkehr zu den analoger ausgerichteten Anfängen der 2000er-Jahre bepreist, kommt auf zwei Milliarden Treffer.

Mein täglicher Twitch

Dazu belegt eine Untersuchung der Investmentbank Piper Sandler, dass die Nutzung sozialer Medien durch die Generation Z im Jahr 2021 zumindest in Amerika bei allen relevanten Apps zurückgegangen ist. Die einzige Ausnahme: die für einen besonders aggressiven Algorithmus bekannte chinesische Videoplattform Tiktok.

Christophe Andunda (20), ist hauptsächlich auf Videoplattformen aktiv, vor allem, um sich mit Freunden zu unterhalten. Instagram nutzt er auch als Messenger.
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Eine Studie des Pew Research Center ergab bei einer Befragung von mehr als 1300 jungen Menschen der Generation Z, dass etwa die Hälfte sich vorstellen kann, künftig gänzlich ohne soziale Medien auszukommen.

Christophe Andunda aus Wien ist noch nicht so weit. Der 20-Jährige nutzt Instagram, Snapchat, Twitch, Youtube und Discord täglich. So richtig eingestiegen ist er über Twitch und Discord. Games würden ihn einfach interessieren, das wären halt die Plattformen dafür. Mit der Zeit seien aber immer mehr seiner Freunde zu Discord gekommen, damit habe sich auch seine Nutzung verändert: "Wir unterhalten uns jetzt auf Discord-Servern über Video-Chat."

Instagram dagegen sei so was wie sein Nachrichtenkanal. "Ich folge Politikern, aber auch Influencern", sagt Christophe. Er ist dort Konsument, selbst postet er gar nichts. "Das würde ich vielleicht machen, wenn ich professionellen Content hätte. Aber so? Nur einfach irgendwas aus meinem Leben online zu stellen will ich eigentlich nicht."

Die 19-jährige Aline Xue sieht das anders. "Ich hatte schon mit 12 Jahren auf Social Media einen Account, und wollte auch immer gerne bekannt werden." Alines Ziel war es immer, eine Influencerin zu werden.

Produzieren nimmt viel Zeit ein

Influencer. Die Stars des Internets. Die Idole der Gegenwart. Sie sind nicht zwangsläufig deshalb berühmt, weil sie über ein einzigartiges Talent verfügen würden: Influencer, "Beeinflusser", können oft nicht besser singen, tanzen oder Fußball spielen als andere. Aber sie wissen, wie sie die Social Media-Mechanismen und Interessierte perfekt bedienen –und wie sie dort Werbung machen, für sich und Produkte.

Aline Xue (19) hat schon immer gern ihr Leben und lustige Beobachtungen mit ihren Followern geteilt. Heute hat sie hunderttausende Follower auf Tiktok.
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Aline hat auf TikTok mittlerweile mehr als 380.000 Follower. Denen erzählt sie von ihrem Schulalltag, Urlauben – "alles, von dem ich denke, es ist lustig und könnte unterhalten." Oft tanzt sie auch, das ist ihr größtes Hobby. Neue Choreographien zeigt sie sofort ihren Fans. All das klingt für Laien recht simpel, die Videos wirken spontan und nicht hochprofessionell – aber genau diesen Effekt zu erzielen, ist gar nicht so unstressig. Alleine das Erzeugen der Videos, Influencer wie Aline sagen "Content Creation" dazu, nimmt zwei bis drei Stunden am Tag ein.

Einmal hat Aline Social Media bereits den Rücken gekehrt. Damals war es in der Schule gerade "besonders stressig, mir wurde dann beides zu viel: Lernen, Produzieren, Posten und die Kommentare beantworten." Einen Monat hat die Pause gedauert, dann war sie wieder back on track. Ganz auszusteigen? Kein Gedanke.

Der deutsche Jugendforscher Simon Schnetzer hat über Jahre untersucht, wie die sozialen Netzwerke ein besserer Ort werden können. Dabei stieß er vor allem auf zwei Probleme: Jugendliche hätten durch die ständige Nutzung des Handys und der Apps keinen richtigen Rückzugsort mehr.

Olivia Leopold (15) sieht sich gerne Comedy und Filmrezensionen auf Tiktok an. Allerdings hat sie sich nun eine strenge Bildschirmzeit auferlegt.
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Egal, was in der Welt passiere, selbst wenn sie sich zuhause zurückziehen – das Handy würde ständig bimmeln. Man befände sich also permanent in einer Art Alarmzustand. Eine weitere bedenkliche Entwicklung: Auf Tiktok und Co. gäbe es keine medialen Filter mehr. Sowohl Bilder von Krieg, als auch Naturkatastrophen und Gewalt würden die jungen Menschen meist ohne ordentliche Einordnung erreichen.

Verzicht kann glücklich machen

Die 15-jährige Olivia Leopold hat sich selbst eingeschränkt. Sie legt eine tägliche Bildschirmzeit für sich fest. "Nach zwei Stunden auf Tiktok und Instagram bekomme ich eine Meldung, dass mein Limit erreicht ist." Sie würde sonst ewig in dem scheinbar endlosen Fluss aus Kurznachrichten, Videos und Fotos hängen. "Nach einer Zeit ist es ja auch langweilig. Aber man weiß oft nicht, wie man sich sonst entertainen kann." Früher, sagt sie, war sie ein "Bücherjunkie", las pro Woche 200 Seiten. Jetzt ginge es ihr oft zu langsam beim Lesen. "Ich glaube, da sind auch die sozialen Medien schuld." Comedy-Clips und Filmtrailer packen sie auf Tiktok länger.

Ulrike Schwier (28) verzichtet seit sechs Monaten völlig auf ein Smartphone und nutzt nur noch WhatsApp auf einem Nokia-Handy mit Internet.
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Die 28-jährige Ulrike Schwier hat genau deshalb vor einem halben Jahr alle Social Media-Apps auf ihrem Handy gelöscht. Seit sie 14 war, hat sie täglich mehrere Stunden auf Facebook und Instagram verbracht, sogar im Schulunterricht immer wieder auf ihr Handy geschielt, um sich abzulenken und mitzubekommen, was sich so tut. "Es hat so unendlich viel Zeit gestohlen", sagt sie heute. "Mit 80 möchte ich in einem Kaffeehaus sitzen und an die spannenden Situationen zurückdenken, die ich erlebt habe – und nicht Zeit vergeudet haben." Sie fühle sich zufriedener, konzentrationsfähiger und stressfreier, seitdem sie ein einfaches Telefon benutzt.

Was Schwier erlebt, nennt Jugendforscher Simon Schnetzer eine der drei Social-Media-Phasen. Erst freue man sich, dass man ein Smartphone benutzen könne und werde zum "Power-Nutzer". Das nächste Ziel wäre dann bei vielen, möglichst viele Follower und Likes zu ergattern. Nach dem Schulabschluss oder dem Eingehen engerer Beziehungen würden Junge dann oft merken, dass es noch ein Leben "da draußen" gäbe.

"Wenn jemand mit dem Konsum aufhört, ist er oder sie durch diese Social Media-Reifephasen gegangen," sagt Schnetzer. Die Entscheidung, sich aus dem ständigen Feed rauszuziehen, sei nicht einfach und deshalb auch noch kein Massenphänomen. Die Emanzipation gelinge erst, wenn man nicht ständig das Gefühl bekommt, man könnte etwas verpassen. (Melanie Raidl, Alexander Amon 25.2.2023)