Ein Bildschirm in der Erdbebenwarte Kandilli in Istanbul zeigt die vielen Erdbeben der vergangenen Wochen im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

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Gaziantep/Idlib – Die türkische Architektenkammer TMMOB ortet bei der Regierung große Mitschuld am Ausmaß der Erdbebenkatastrophe. Durch die nachträgliche Legalisierung tausender ungenehmigter Bauten habe die Regierung das Leben etlicher Menschen aufs Spiel gesetzt, hieß es in einem Bericht der Kammer vom Donnerstag.

Knapp die Hälfte der Gebäude in der vom Erdbeben betroffenen Region sei nach 2001 gebaut worden – in einer Zeit, in der bereits scharfe Bauvorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft waren. Trotzdem sei auch die Hälfte der eingestürzten oder stark beschädigten Gebäude aus dieser Zeit. Die Bauaufsicht sei auf die Privatwirtschaft übertragen worden, womit der Staat seine Verantwortung für die Allgemeinheit vernachlässigt habe.

Mehr als 50.000 Tote

Zweieinhalb Wochen nach der Erdbeben-Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 50.000 gestiegen. Alleine in der Türkei liege die Zahl bei 44.218, meldete die türkische Katastrophenbehörde Afad am Freitagabend. Aus Syrien wurden zuletzt 5900 Tote gemeldet.

Noch immer erschüttern Nachbeben die Region und lösen bei den Anwohnern oft Panik aus. Laut türkischer Regierung sind 20 Millionen Menschen im Land von den Auswirkungen des Bebens betroffen. Für Syrien gehen die Vereinten Nationen von 8,8 Millionen Betroffenen aus.

Staatliche Hilfe mit Verspätung

Mit Blick auf das Versprechen der Regierung, innerhalb eines Jahres die betroffenen Regionen wiederaufzubauen, mahnte die Kammer, der Wiederaufbau dürfe nicht unter den gleichen Prämissen betrieben werden. Der Regierung zufolge sind bisher 164,000 Gebäude als eingestürzt oder stark beschädigt registriert. Daten der vergangen Jahre zeigten aber, dass die staatliche Wohnungsbaubehörde Toki im Jahr nur rund 58.500 Häuser bauen könne, so die Architektenkammer.

In dem Bericht wurde zudem erneut kritisiert, dass an viele Orte über Tage keine Hilfe gelangt sei. In Städten der Provinz Hatay etwa hätten Regierung und Katastrophendienst erst am vierten Tag begonnen, aktiv Hilfe zu leisten. In der Stadt Malatya etwa sei der Katastrophendienst zwar vom ersten Tag an aktiv gewesen, aufgrund mangelnder Koordination und Organisation jedoch nicht effektiv.

Erdoğan gestand Verantwortung nur teilweise ein

Die Krisenreaktion habe offengelegt, dass der Staat massiv unvorbereitet gewesen sei. Von der Regierung eingesetzte Gouverneure hätten zudem für Kompetenzchaos gesorgt und Entscheidungen verlangsamt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Regierungsvertreter hatten derartige Kritik von sich gewiesen. Erdoğan hatte eingestanden, dass es in den ersten Tagen Probleme gegeben habe. Engpässe bei der Versorgung der Krisenregionen etwa hatte die Regierung unter anderem mit der Größe des betroffenen Gebietes und der Schwere der Katastrophe begründet. (APA, 24.2.2023)