"Dann kommt der Gefährder aus dem Gefängnis, womöglich noch radikalisierter, und wir wissen immer noch nicht, was er konkret vorhat und woran er arbeitet", moniert Staatsschutzchef Omar Haijawi-Pirchner.
Foto: Regine Hendrich

Wer mit Omar Haijawi-Pirchner sprechen will, muss sämtliche elektronischen Geräte in einem Kasten verwahren und eine Sicherheitsschranke durchlaufen. Sogar der Kamerakoffer der Fotografin wird durchleuchtet. Erst dann empfängt Österreichs oberster Verfassungsschützer den STANDARD in einem karg eingerichteten Raum in der "roten Zone" der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN).

STANDARD: Die Urteile im Terrorprozess zum jihadistischen Anschlag vom 2. November 2020 in Wien sind ergangen, der IS ist in Syrien und dem Irak stark zurückgedrängt. Wie gefährlich ist der radikale Islamismus in Österreich noch?

Haijawi-Pirchner: Es gibt zwischen 50 und 60 Hochrisikogefährder, rund die Hälfte davon ist in Haft, rund zehn Prozent sind weiblich, ein Teil ist psychisch auffällig. Es ist ein massiver Ressourcenaufwand, diese zu beobachten, aufzuklären und abzuwehren. Die rechtlichen Mittel dafür sind aber noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Das gilt für den islamistischen Extremismus und den Bereich des Rechtsextremismus, der eine gleich hohe Gefahr für Anschläge aufweist.

STANDARD: An was denken Sie da?

Haijawi-Pirchner: Wir müssen unsere rechtlichen Befugnisse an moderne Kommunikationsformen anpassen. Die klassische Telefonüberwachung kann in der Strafverfolgung angeordnet werden, aber fast niemand nutzt heute normale Sprachtelefonie im modernen LTE-Netz. Kriminelle und Gefährder nutzen verschlüsselte Messenger wie Telegram, Signal oder Whatsapp. Wir haben da keine Möglichkeiten mehr, diese Kommunikation mitzubekommen. Für unsere Ermittlungen ist das ein Problem. Unser Gegenüber nutzt immer die aktuellen technischen Möglichkeiten. Da müssen wir auf Augenhöhe sein. Wir sind auf dem Stand von 2008.

STANDARD: Kurzum, Sie wollen einen Trojaner?

Haijawi-Pirchner: Ich rede da in erster Linie gar nicht von einem Trojaner. Es gibt andere Möglichkeiten. Wir brauchen auch keinen Vollzugriff auf ein Gerät, sondern etwa nur auf eine bestimmte App, auf ein Mikrofon oder auf Bewegungsdaten. Verbunden natürlich mit stärkstem Rechtsschutz. Der rasche Austausch des Staatsschutzes mit den Justizbehörden, der übrigens sehr gut funktioniert, ist für die Beweissammlung wesentlich.

"Und im Hintergrund fließt viel Geld": Der heimische Verfassungsschutz beobachtet nach wie vor einen starken Einfluss des sogenannten "Islamischen Staats" (IS) auf die Szene in Österreich.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Nachdem Sie Signal nicht dazu kriegen werden, Hintertüren einzubauen, wird ein Trojaner die einzige Möglichkeit bleiben.

Haijawi-Pirchner: Das wird man gegebenenfalls in einer Debatte darüber sehen. Aber ich bin schon der Meinung, dass man Messengerbetreiber in die Pflicht nehmen muss. Telegram, auf dem gerade während der Pandemie viele radikale Botschaften verbreitet wurden, hat nur minimal mit uns kooperiert, indem gelegentlich Inhalte gelöscht wurden, auf die wir hingewiesen haben.

STANDARD: Aber schlagen da nicht zwei Herzen in Ihrer Brust? In puncto Spionageabwehr, etwa im Industriebereich, brauchen Sie ja sichere Messenger und Verschlüsselung.

Haijawi-Pirchner: Natürlich – wir wollen deshalb nicht auf großflächige Überwachung setzen. Aber wenn es Hinweise gibt, dass eine Person konkret Anschlagspläne hegt, dann muss ich alle probaten technischen Möglichkeiten nutzen können, um die Gefahr aufzuklären. Da gibt es in Österreich und Europa derzeit doch einige Gefährder, die als Unterstützer für Anschläge dienen können.

STANDARD: Kann da die Justiz nichts dagegen unternehmen?

Haijawi-Pirchner: Wenn wir den Justizbehörden mitteilen, dass wir ein radikales Netzwerk gefunden haben, von dem Gefahr ausgeht, kann eine Hausdurchsuchung angeordnet werden. Dann wird etwa am Telefon IS-Propagandamaterial gefunden, wofür es womöglich eine mehrmonatige Haftstrafe setzt. Nur: Dann kommt der Gefährder aus dem Gefängnis, womöglich noch radikalisierter, und wir wissen immer noch nicht, was er konkret vorhat und woran er arbeitet. Wir können keine klare Beweislage anführen, weil wir die Kommunikation des Gefärdernetzwerks nicht aufklären können. Das gilt für den Rechtsextremismus genauso und ist auch in der Spionageabwehr ähnlich, weil Geheimdienste aktuelle technische Möglichkeiten nutzen.

"Wir sehen keine Ausreisen ins Kampfgebiet, also nach Syrien und dem Irak. Wir sehen aber sehr wohl Reisen nach Saudi-Arabien, wo es um die Indoktrinierung geht. Das ist systematisiert."
Staatsschutzchef Omar Haijawi-Pirchner

STANDARD: Bei fast jedem Attentat in Europa gab es zuvor Warnhinweise, ob beim Berliner Breitscheidplatz 2016 oder in Wien 2020. Reichen die Hinweise nicht doch schon aus, und man müsste sie nur besser einschätzen?

Haijawi-Pirchner: So etwas wie beim Anschlag in Wien würde bei der DSN nicht mehr passieren. Informationen werden im Staatsschutz heute schneller verarbeitet. Wir haben in den vergangenen Monaten einige Fälle gehabt, wo Österreicher ins Ausland gefahren sind und sich für Waffen interessiert haben. Wir haben immer Maßnahmen gesetzt. Aber: Selbst wenn Ermittler die Justiz damals über den versuchten Munitionskauf des späteren Attentäters in der Slowakei informiert hätten – was wäre passiert? Es hätte vielleicht eine U-Haft gegeben, aber nach einem Monat wäre der Mann wieder auf freiem Fuß gewesen.

STANDARD: Auf freiem Fuß ist einer der freigesprochenen Freunde des Wiener Attentäters. Die Radikalisierungsstelle Derad hat nach dem Prozess offen gesagt, dass er die Geschworenen an der Nase herumgeführt habe. Ist er als Gefährder bekannt?

Haijawi-Pirchner: Zur konkreten Person kann ich mich nicht äußern. Aber uns ist die Szene rund um den Attentäter vom 2. November 2020 gut bekannt. Besonders in den letzten Monaten hat sie sich wieder stärker entwickelt. Prinzipiell müssen wir von drei Gruppierungen ausgehen, die sich im Bedrohungsszenario unterscheiden. Da wäre der im Internet radikalisierte Einzeltäter. Von diesem Milieu kann eine Gefahr ausgehen, weil sich einzelne zu Hause so weit radikalisieren, bis sie versuchen, an Waffen oder ein Messer zu kommen oder Anschlagsmaterialien, etwa Bomben, herzustellen. Das Internet ist teils ein unkontrollierter Raum, wo Propaganda und Desinformation grassieren.

STANDARD: Gibt es auch eine Vernetzung abseits des Internets?

Haijawi-Pirchner: Ja, das ist eine Szene, die radikalisierte Jugendliche von circa 13 bis 28 Jahren umfasst. Die nutzen zwar das Internet stark, aber treffen sich auch im realen Leben, etwa in Moscheen, um über ihre Intentionen zu sprechen und Planungen durchzuführen. Da werden auch Auslandsreisen in den arabischen Raum durchgeführt, um den radikalen Glauben zu festigen. Da sehen wir, dass gerade der "Islamische Staat" (IS) als Terrororganisation einen Einfluss hat.

"Irgendwann wird der Krieg hoffentlich vorbei sein, und dann wird man sich überlegen müssen, was mit diesen tausenden Waffen passiert. Das wird ein Thema für die organisierte Kriminalität, aber auch für den Terrorismus."
Staatsschutzchef Omar Haijawi-Pirchner

STANDARD: Noch immer?

Haijawi-Pirchner: Ja. Zwar ist der IS 2019 in Syrien stark zurückgedrängt worden, aber der Einfluss aus Afghanistan nach Europa wächst stark, auch der aus Syrien, dem Irak und der Türkei ist noch vorhanden.

STANDARD: Sehen Sie da noch Ausreisebewegungen?

Haijawi-Pirchner: Wir sehen keine Ausreisen ins Kampfgebiet, also nach Syrien und dem Irak. Wir sehen aber sehr wohl Reisen nach Saudi-Arabien, wo es um die Indoktrinierung geht. Das ist systematisiert.

STANDARD: Wer organisiert diese Reisen?

Haijawi-Pirchner: Das ist unterschiedlich. Teils sind es Terrororganisationen, die im arabischen oder im asiatischen Raum angesiedelt sind; teils werden solche Reisen von sogenannten Influence-Preachern angeboten. Die bieten Anleitungen im radikalen islamischen Glauben auf Tiktok, Instagram oder Youtube an und laden dann zu solchen Reisen ein. Noch heute spielen auch Videos vom verurteilten Prediger Mirsad O. eine große Rolle für Heranwachsende in der Szene.

STANDARD: Was ist mit älteren Mitgliedern der islamistischen Szene?

Haijawi-Pirchner: Das ist die dritte große Gruppe, die wir bearbeiten: die "Erwachsenen", also diejenigen, die schon länger in Österreich sind, einen Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Ländern mitbringen, etwa aus dem arabischen, afrikanischen Raum oder dem Balkan. Da geht es auch um Personen, die 2015 im Zuge der Fluchtkrise nach Österreich gekommen sind. Hier gibt es eine starke Einflussnahme des IS. Die Szene ist sehr stark organisiert, vergleichbar mit jener der organisierten Kriminalität. Da gibt es Hintermänner, die ansagen, was zu tun ist, im Hintergrund fließt viel Geld.

STANDARD: Welche Rolle spielen Gefängnisse bei der Radikalisierung?

Haijawi-Pirchner: Haftanstalten spielen eine große Rolle. Wir haben immer wieder Gefährder, die noch radikalisierter aus der Haft kommen. Deshalb haben wir mit den Justizbehörden eine Arbeitsgruppe Fallkonferenz eingeführt, um gemeinsam zu beraten, welche konkreten Maßnahmen wir setzen, sobald Gefährder die Haftanstalten verlassen. Deradikalisierung hat hier eine enorme Bedeutung.

"Wir haben in den vergangenen Monaten einige Fälle gehabt, wo Österreicher ins Ausland gefahren sind und sich für Waffen interessiert haben", erläutert Haijawi-Pirchner im Interview.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Der Slowene, der dem Wiener Attentäter die Tatwaffen verkauft hatte, blieb im Terrorprozess außen vor. Was ist da passiert?

Haijawi-Pirchner: Ich war in die Ermittlungen nicht eingebunden – sie gingen aber in eine klare Richtung. Wie die Ergebnisse bewertet werden, obliegt den Justizbehörden, dazu kann ich nichts sagen. Aber dieser Fall war jedenfalls ein Auslöser dafür, dass das Thema internationaler Waffenhandel ein Aufgabengebiet im Verfassungsschutz wurde. Wir sehen, dass Waffen aus den Balkankriegen immer noch in der organisierten Kriminalität und im Terrorismus auftauchen.

STANDARD: Und wenige hundert Kilometer von Wien entfernt findet derzeit ein Krieg statt ...

Haijawi-Pirchner: Wenn man in Richtung Ukraine schaut und sieht, dass hochmoderne Waffen im Spiel sind, wie Panzerabwehrgranaten, mit denen große Schäden angerichtet werden können, dann macht uns das schon Sorgen.

STANDARD: Also gehen Sie davon aus, dass diese Waffen in falsche Hände geraten werden?

Haijawi-Pirchner: Ja, wir müssen leider davon ausgehen. Wir nennen das "Battlefield Collection". Irgendwann wird der Krieg hoffentlich vorbei sein, und dann wird man sich überlegen müssen, was mit diesen tausenden Waffen passiert. Das wird ein Thema für die organisierte Kriminalität, aber auch für den Terrorismus. Internationale Vernetzung ist unabdingbar, um die Verbreitung dieser Waffen einzudämmen, darauf setzen wir verstärkt – bereits jetzt.

STANDARD: Sind Sie in puncto Spionageabwehr gut aufgestellt? Diese Referate waren massiv unterbesetzt.

Haijawi-Pirchner: Das Thema ist weniger, dass wir nicht genügend Planstellen haben – die hat uns das Innenministerium zur Verfügung gestellt. Das Problem ist eher, Personen zu finden, die in diesem Bereich auf höchstem Niveau täglich sehr lange arbeiten und die Verantwortung übernehmen möchten. In Österreich gibt es bislang keine ausreichende "Intelligence"-Kultur, es gab auch keine öffentlich zugänglichen Aus- oder Fortbildungen. Wir arbeiten derzeit daran, Lehrgänge zu etablieren, um dann Abgängerinnen und Abgänger zu rekrutieren, die zumindest theoretische Erfahrungen haben.

STANDARD: Wie "breit" definieren Sie die Aufgaben eines Nachrichtendiensts? Geht es darum, fremde Spione zu schnappen, oder auch darum, etwa vor einer energiepolitischen Abhängigkeit zu warnen?

Haijawi-Pirchner: Die Intention der Verfassungsschutzreform war auch, ein Frühwarnsystem einzurichten. Ein Beispiel war etwa die Corona-Pandemie, die anfangs zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, dann aber zu einem großen Thema für die öffentliche Sicherheit wurde. Da ist es unsere Aufgabe, so etwas zu erkennen und politische Entscheidungsträger zu informieren. Das lässt sich nicht innerhalb kürzester Zeit umsetzen. Aber wir sind auf einem guten Weg. (Jan Michael Marchart, Fabian Schmid, 27.2.2023)