Am Jahrestag der Invasion zeigten zahlreiche Menschen vor dem Europäischen Parlament in Brüssel ihre Solidarität mit der Ukraine.

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Viola von Cramon, Abgeordnete der deutschen Grünen im EU-Parlament.

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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei nicht nur für das angegriffene Land selbst von existenzieller Bedeutung, sondern auch für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten. Dieser Krieg sei in den Konsequenzen ein "absoluter Gamechanger", etwas, das die Art und Weise, wie die Gemeinschaft jahrzehntelang geprägt war und funktionierte, verändern wird.

Davon zeigt sich die grüne EU-Abgeordnete Viola von Cramon überzeugt: "Wir sind aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs auf Kooperation, Ausgleich, auf Integration und Softpower, auf wirtschaftlichen Wohlstand und kulturelle Vielfalt ausgerichtet", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Mit der Erweiterungspolitik sei versucht worden, den Rüstungshaushalt kleinzuhalten. "Das war der Deal."

Wladimir Putins Krieg stelle das infrage, ändere die Lage grundlegend. "Wir müssen Russland fürchten, viel mehr als die Menschen auf der anderen Seite des Atlantiks." Deshalb müssten die Europäer sich kümmern. Konkret heiße das, dass "wir klare Signale brauchen, dass wir bereit sind, für den Sieg der Ukraine militärisch alles zu liefern, was wir haben. Das muss schneller gehen." Allein schon "wegen der geografischen Nähe dürfe man nicht immer darauf schielen, ob die Amerikaner das Gleiche machen. Wir müssen mehr tun."

Warnerin mit Habeck

Die deutsche Mandatarin gehört im EU-Parlament der Fraktion der Grünen an. Sie war bereits vor mehr als einem Jahr eine der wenigen Politikerinnen in Europa, die vor dem Angriff eindringlich gewarnt haben. Und sie zählte 2021 zu jenen, die den heutigen Vizekanzler Robert Habeck vor Bildung der rot-grün-gelben Regierung bei einer Reise in die Ukraine begleiteten und dessen Sympathie für Waffenlieferungen an Kiew im Kriegsfall unterstützten.

Damals umstritten, sieht sie sich bestätigt. Viele hätten die Alarmzeichen nicht erkennen wollen, waren "friedensverwöhnt, wollten sich an den Gedanken an Krieg nicht gewöhnen". Für sie sei deutlich gewesen, dass Putin es ernst meine: "Man baut nicht eine gesamte militärische Infrastruktur samt Krankenhäusern auf, um ein Training abzuhalten." Zudem habe es den Krieg im Osten der Ukraine seit 2014 gegeben.

Die studierte Agrarökonomin sitzt in Straßburg im Assoziierungsausschuss EU-Ukraine. In Russland wie in der Ukraine arbeitete sie in den 1990er-Jahren an Agrarprojekten. "Russland hat die Verarbeitung seiner Geschichte nie durchgemacht", sagt sie. Trotz Perestroika und der Veränderungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion "hat das imperiale Denken nie aufgehört, wurde auch ausgelebt". In der Ukraine sei die Stimmung anders gewesen: "Es war eine einladendere Gesellschaft, die Menschen waren zugänglich, wollten etwas ändern, alles neu aufstellen."

Im starken Glauben der Ukrainerinnen und Ukrainer an die demokratischen Werte sieht sie auch das wichtigste Motiv für Unterstützung durch die EU: "Wir müssen sie verteidigen. Sonst zieht der Autokratismus auch in unsere Gesellschaft ein. Dann können wir das, wofür wir stehen, vergessen." Dazu gebe es im EU-Parlament über alle Fraktionsgrenzen hinweg breite Übereinstimmung, auch bei Italiens rechter Premierministerin Georgia Meloni. "Die Ränder sind das Problem."

Putin könnte gewinnen

Eines sei evident: "Wenn wir zulassen, dass Putin die Ukraine übernimmt, die Existenz eines europäischen Staates vor unser aller Augen vernichtet, wenn wir Deportationen und Filtrationslager zulassen, dann haben wir als EU versagt."

Von Cramon schließt das nicht aus: "Dann können wir aber unsere ganze Erweiterungsstrategie, die Integration der Gemeinschaft vorläufig vergessen. Das Nächste würde sein, dass Putin auf dem Balkan die nächsten Konfliktlinien aufmacht, die nächste Front. Wir hätten russische Soldaten direkt an der Grenze zu Ungarn, zur Slowakei." Die Folge: "Wir würden gezwungenermaßen noch viel mehr Geld in Verteidigung und Aufrüstung stecken müssen."

Und weiter: "Wir müssen mehr Druck machen, dazu gehört die Panzerallianz." Militärische Hilfe sei "die Bedingung dafür, dass wir humanitäre Hilfe leisten können, den Wiederaufbauplan besprechen, die Einrichtung eines Sondergerichtshofes für Kriegsverbrechen".

Der Ukraine jetzt den EU-Beitritt zu versprechen hält sie aber für "unrealistisch und unredlich", man müsse die richtigen Prioritäten setzen: "Lasst uns jetzt alles machen, was die Ukraine braucht, um zu überleben", sagt Viola von Cramon. (Thomas Mayer aus Brüssel, 27.2.2023)