Andrei S. Markovits: "In meinen Kursen habe ich Leute, die fast so viel über Fußball wissen wie ich."

Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #177 (März 2023) – Seit 24. Februar im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: TOURNEEN

MIT DEM BALL UM DIE WELT

Die Reisen der österreichischen Klubs

DIE EROBERUNG AMERIKAS

Die Hakoah in den USA

TAKTIKSTUDIUM IM AUSLAND

Rapid in Brasilien

DIPLOMATISCHE MISSION

Kapfenberg und die Vienna in Israel

ILLEGALE EINFUHR

Die Opiumaffäre der Vienna

Außerdem im neuen ballesterer

"WIR MÜSSEN UNSEREN ANSPRUCH MIT LEBEN FÜLLEN"

Rapid-Präsident Alexander Wrabetz im Interview

VON TEL AVIV NACH SALZBURG

Die Transfersaga um Oscar Gloukh

KOPF IM SAND

Newcastle-United-Fan Hird über die saudischen Besitzer

DER FUNKE DER RIVALITÄT

Wie das Prager Derby Feuer fing

SERIENTÄTER

Der Strafenkatalog der italienischen Liga

FENSTER NACH DEUTSCHLAND

Die Fußballliebe der Banater Schwaben

ALS LEGIONÄR IN SAN MARINO

Adrian Eacock wartet auf sein Ligadebüt

ÜBER PROPAGANDA UND BEFREIUNG

Brigitte Weichs neuer Film

BAUEN ODER NICHT BAUEN

Das Drama um den Sport-Club-Platz

KLEINE TÄTER, KEINE OPFER?

Ein Anstoß zur Spielmanipulation

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, Luxemburg, Italien und Nordirland

Ein Gespräch mit dem Soziologen Andrei Markovits ist ein wilder Ritt durch Gegenwart und Vergangenheit von Sport und Politik. Es geht von Messi zu Marx, von österreichischem Dialekt zu amerikanischem Fachvokabular, vom Fußball zum Baseball, von Old Trafford ins "Big House", das Michigan Stadium in Ann Arbor, wo Markovits lebt.

Zu Beginn des Gesprächs fasst er im Schnelldurchlauf zusammen, wie der Fußball in den USA an Bedeutung gewonnen hat – vom Besuch der Wiener Hakoah 1926, der die Tradition begründet, dass der US-Präsident erfolgreiche Mannschaften empfängt, über New York Cosmos bis zu den Tourneen europäischer Topklubs. Inzwischen, sagt er, sei der Fußball in Amerika angekommen.

ballesterer: Woran lässt sich erkennen, dass Fußball in den USA wichtiger geworden ist?

Markovits: Vor vier, fünf Jahren hat in der großen Sportbar, in die ich öfter gehe, vielleicht einer ein Fußballtrikot getragen, von Manchester United oder Barcelona. Heute sind dort alle möglichen Shirts zu sehen, von Dortmund, Roma, Sporting. Früher habe ich im Wintersemester dienstags und mittwochs am Nachmittag unterrichtet, das mache ich nicht mehr. Dann schauen die Studenten nämlich Champions League auf ihren Smartphones. In meinen Kursen habe ich Leute, die fast so viel über Fußball wissen wie ich. Vor Kurzem wollte ein 20-jähriger Bursche aus Oklahoma mit mir über Ferenc Puskas diskutieren.

ballesterer: Hat das etwas mit den Tourneen zu tun? Oder liegt das am Fußball, der im Fernsehen zu sehen ist?

Markovits: Ich bin davon überzeugt, dass es ohne die Besuche von Real Madrid, Liverpool und so weiter nicht passiert wäre. Es macht etwas aus, dass die großen europäischen Klubs in die USA kommen und der FC Bayern ein Büro in Manhattan hat. Ich würde mich auch freuen, wenn europäische Ligaspiele in den USA stattfinden würden.

ballesterer: Die Marketingtourneen von Real & Co. haben also dafür gesorgt, dass Tradition und Geschichte des Fußballs plötzlich für Jugendliche aus der Provinz präsent sind?

Markovits: Ja, wenn Sie so wollen. Der Kapitalismus ist mächtig. Er hat den Feudalismus besiegt, und jetzt verkauft er einem Burschen aus Oklahoma ein Real-Trikot. Messi und Ronaldo stehen in Amerika am Firmament des Sports neben den Basketballstars. Ich habe eine Studie über Soziale Medien gemacht, die zeigt, dass die NBA eine enorme Reichweite hat, die NFL nicht. Die einzigen, die da mithalten können, sind die europäischen Fußballstars.

ballesterer: Erstaunt es Sie, dass in einer Welt, die über Social Media und das Fernsehen funktioniert, die Präsenz noch wichtig ist? Dass die Mannschaften anreisen und nicht nur Videobotschaften twittern?

Markovits: Der moderne Sport ist glocal, er ist global und lokal. Die Präsenz ist wichtig, damit sich der Sport wirklich verbreiten kann. Man muss ihn sehen, berühren und erleben können.

Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/Jason Mille

ballesterer: Sie haben viele Spiele Ihres Herzensklubs Manchester United in den USA gesehen, 2018 vor 100.000 im Michigan Stadium gegen Liverpool. Das ist ein Footballstadion. Ändert das etwas?

Markovits: Ja, nach den Fifa-Regularien ist es zu schmal für ein Fußballfeld. Weil es kein Collegespiel war, hat sogar Alkohol verkauft werden dürfen, das geht sonst nicht. Die Stimmung war herrlich, das ganze Stadion war in Rot getaucht – wobei unser Rot viel schöner ist als ihres. United hat sehr viele Fans in Amerika. Als sie 2013 gegen Real gespielt haben, war Real hinterher sehr verärgert, dass 80 Prozent der Zuschauer Rot getragen haben. Die Stimmung bei diesen Spielen ist aber freundlich. Es gibt Sticheleien, aber keine Feindseligkeiten wie bei den Partien in England.

ballesterer: Liegt das an den USA oder am Charakter des Spiels? Das war ein Gruppenspiel im International Champions Cup.

Markovits: Ich glaube Letzteres, es ist eher eine Testspielatmosphäre. Aber ich kann mich auch noch gut an das Finale im International Champions Cup 2014 zwischen Liverpool und United in Miami erinnern. Das hat auch am Platz einen ganz anderen Charakter gehabt, da haben sich die Kapitäne, Stephen Gerrard und Wayne Rooney, beim Einlaufen nicht einmal angeschaut.

ballesterer: Eine Kulisse von 100.000 ist in Europa nicht mehr möglich. Wer kommt in den USA zu diesen Spielen?

Markovits: Den Autos am Parkplatz nach auch Leute aus den angrenzenden Bundesstaaten wie Indiana und Ohio, ich habe sogar kanadische Nummerntafeln gesehen. Uns haben Leute aus Wisconsin nach Karten gefragt. Das Publikum ist weniger studentisch als sonst, es hat auch keinen Sektor mit günstigen Preisen gegeben.

ballesterer: Diese internationalen Spiele sind ohnehin deutlich teurer als die MLS.

Markovits: Ja, aber es gibt genug Ärzte, Anwälte und andere Akademiker im Umkreis von 800 Kilometern um Ann Arbor, die das Stadion füllen können.

ballesterer: Hat sich beim Publikum etwas zu früher geändert?

Markovits: Es ist ganz anders. In den 1960er Jahren habe ich Liverpool und Inter in New York spielen sehen, auch Santos mit Pele. Aber das war in einem abgewrackten Stadion im East River. Man hat kein amerikanisches Englisch gehört, sondern britische Akzente, Portugiesisch und Jiddisch. Fußball war in Amerika damals eine eigene Welt. Die Besuche der großen Teams waren ein Event für die Migranten. Heute ist der Fußball nicht mehr exotisch.

ballesterer: Profitiert auch der Klubfußball davon?

Markovits: Na ja, ich sehe in meiner Sportbar nur selten ein Shirt von LA Galaxy oder Inter Miami. Aber es gibt auch auf Klubebene Veränderungen. Die Teams werden besser und beliebter, Angel City, das neue Frauenteam in Los Angeles, hat viel Aufmerksamkeit bekommen. Die Fankultur wächst. Aber die USA sind im Fußball trotz allem noch Semiperipherie.

ballesterer: Was bedeutet das?

Markovits: Das Kern-Peripherie-Modell beschreibt die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Regionen der Welt. Auf den Fußball übertragen sind die fünf großen westeuropäischen Ligen der Kern. Sie importieren die Spieler, das Rohmaterial, die Arbeitskräfte, und sie exportieren die Trikots, den Diskurs, die Kultur. Die MLS ist Teil der Semiperipherie. Es kommen Spieler aus der Peripherie, aus Haiti und Honduras, die hoffen, von hier in die Premier League zu wechseln. In anderen großen Sportarten wie Basketball und Eishockey sind die USA der Kern und Europa die Semiperipherie.

ballesterer: Kann sich das Verhältnis von Kern und Semiperipherie verschieben?

Markovits: Klar. Heute sind die amerikanischen Teamspieler in den großen europäischen Ligen unter Vertrag, also im Kern. Wenn ich das 2002 vorhergesagt hätte, wäre ich ausgelacht worden. Die Torleute waren schon früher in Europa, das ist ja die einzige Position, auf der mit der Hand gespielt wird. Da waren die Amerikaner schon immer gut. Aber ich hoffe sehr darauf, dass die USA im Fußball ein Kern werden. Dass ein guter deutscher Spieler mit 20 Jahren nicht nur von Barcelona und Liverpool träumt, sondern auch von Atlanta United.

ballesterer: Wann kann das passieren? Und kann die WM 2026 da etwas bewegen?

Markovits: Die WM hat eine Schlüsselrolle. Für die Männer, wohlgemerkt. Die Frauen haben ja schon vier WM-Titel. Aber solange die Männer nicht zumindest ins Viertelfinale kommen, wo sie gegen ein großes Team wie Brasilien, Argentinien, Deutschland oder England unterliegen, ist der amerikanische Fußball immer noch nicht stark genug. Er ist stärker als früher, aber noch immer zu schwach. Aber wenn der Nationalmannschaft ein großer Erfolg gelingt, dann ist es eine gmahte Wiesn. Aber das wird wohl nicht 2026 passieren, ich hoffe auf einen WM-Titel in den 2030er Jahren.

ballesterer: Noch einmal zum Modell. Reicht es dem Kern, wenn er Spieler importiert und Kultur exportiert, oder muss er auch Präsenz zeigen?

Ja, er muss vorbeikommen und seine Ware anbieten, damit die Semiperipherie interessiert bleibt. Wenn die USA Weltmeister werden sollten, haben die Spiele des International Champions Cup viel dazu beigetragen. Sie haben den Fußball und all seinen Firlefanz in die Semiperipherie gebracht.

ballesterer: Die Tourneen der Vergangenheit waren auch Begegnungen mit anderen Kulturen. Gibt es das heute noch?

Markovits: Nein, das sind keine Abenteuer mehr. Aber ich habe eine andere interessante Beobachtung in diesem Zusammenhang gemacht: Letztes Jahr war Tom Brady bei einem United-Spiel. Im Fernsehen hat man gesehen, wie er mit Cristiano Ronaldo und den anderen scherzt. Er will kein Autogramm, und sie wollen keines von ihm. Die Stars sind untereinander befreundet, übrigens auch Stephen Curry und Lionel Messi. Sie kommentieren in den Sozialen Medien die Fotos des anderen. Das ist auch ein großer Aspekt für ihre Follower.

ballesterer: Prominente Footballer, Basketballer und Fußballer sind heute also in einer Art Starblase unterwegs?

Markovits: Ja, und das wäre ohne die Globalisierung des Sports nicht passiert. In den 1990er Jahren hätte ein englischer Fußballer einen amerikanischen Footballspieler nicht gekannt und umgekehrt. Die Exotik von früher ist weg. Auf beiden Seiten des Atlantiks.

ballesterer: Dazu passt, dass die NFL heute Ligaspiele in Europa austrägt. Für europäische Fans wäre das umgekehrt ein Albtraum.

Markovits: Nicht nur für europäische, für lokale Fans. Viele Footballfans hassen diese Spiele in Europa.

ballesterer: Das hat gar nichts mit unterschiedlichen Sportkulturen zu tun?

Markovits: Nein, das hat nichts mit Europa und den USA zu tun. Es geht ein Heimspiel verloren, weil in London, München oder Frankfurt gespielt wird statt in Green Bay. Es gibt ja nicht so viele Footballspiele, und eines davon wird aufgegeben, um mehr Shirts zu verkaufen. In der NBA ist der Widerstand nicht so groß, da haben die Klubs aber auch deutlich mehr Spiele. Die Detroit Pistons haben vor wenigen Wochen gegen die Chicago Bulls vor ausverkauftem Haus in Paris gespielt. Da hat es kaum Protest gegeben.

ballesterer: Sie haben vorher gesagt, das würden Sie sich für den Fußball auch wünschen.

Markovits: Ja, ich hasse die Vorstellung, dass das Lokale reiner und authentischer ist, das finde ich elitär und kleingeistig. Bei einem Spiel gegen Everton im Old Trafford habe ich mich einmal mit einem einheimischen Fan unterhalten, man hört meinen amerikanischen Akzent natürlich sofort, deswegen werde ich a priori nicht ernst genommen. Dann sage ich: "Ich bin seit dem 6. Februar 1958 United-Fan", und plötzlich gehöre ich dazu, werde zum Mitglied des Clans.

ballesterer: Das ist der Tag, an dem das United-Team mit dem Flugzeug in München verunglückt ist.

Markovits: Ich habe ihm dann gesagt: "Warum soll nicht jemand aus Santa Barbara oder Brisbane, der United liebt, auch Fan sein? Warum soll nur jemand aus dem Westen von Manchester authentischer Fan sein können?" Das war früher so, aber die Welt hat sich verändert. Ich finde es gut, dass es in Australien und Thailand United-Fanklubs gibt.

ballesterer: Als Frau über Fußball zu reden, ist so ähnlich wie ein amerikanischer Akzent in Old Trafford.

Markovits: Ja, genau, das gilt auch als unauthentisch. Ich finde das reaktionär. Das muss überwunden werden. (Nicole Selmer, 1.3.2023)