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Die beiden Wiener Aktionswochen der Letzten Generation sind vorbei, am Freitag rufen Fridays for Future zum nächsten globalen Klimastreik auf. Die Entwicklungen in der Klimabewegung werden auch von Teilen der Wissenschaft genau verfolgt. Wann kann der Anstoß zu sozialen Veränderungen gelingen? Und was ist aus der Geschichte anderer Protestbewegungen zu lernen? Ein Überblick zu einigen Ansätzen:

  • Die Suche nach sozialen Kipppunkten

Wie viele Menschen braucht es, um eine Gesellschaft verändern zu können? Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem die Komplexitätsforschung, ein Wissenschaftsbereich, der "komplexe Systeme" untersucht. Sie beschreibt unter anderem soziale Kipppunkte – Momente, in denen sich eine Meinung oder ein Verhalten einer Gesellschaft grundlegend verändert.

Für die Bürgerrechtsbewegung in den USA war etwa der Busprotest von Rosa Parks so ein Moment. "Bevor ein Kipppunkt erreicht wird, sehen wir allerdings relativ lange Prozesse der Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft", erklärt Stefan Thurner, Leiter des Complexity Science Hub in Wien.

Am Beispiel der Klebeproteste: Wenn sehr viele Menschen Tempo 130 auf der Autobahn und den damit verbundenen CO2-Ausstoß als Problem wahrnehmen, dann könnten schon zwanzig Menschen, die sich an die Straßen kleben, eine Veränderung auslösen. Besteht hingegen wenig Bewusstsein für ein Problem, fällt der Auslöser zur Veränderung schwerer.

Wo genau soziale Kipppunkte in einer Gesellschaft allerdings liegen, könne nicht so genau vorhergesagt werden, erklärt Thurner. Sicher sei nur, dass es solche Punkte gibt. "Dass es heute in so vielen Gesprächen um die Klimakleber geht, zeigt uns, dass bereits viel passiert ist in der Gesellschaft", meint der Wissenschafter. "Wir bewegen uns auf einen Kipppunkt zu."

  • Social Balance: Wir orientieren uns an unseren Freunden

Die Forschung zu komplexen Systemen beschäftigt sich damit, wie verschiedene Punkte in einem System miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Dazu sagt eine aktuelle Studie des Complexity Science Hub Vienna: Je leichter Menschen zwischen verschiedenen Gruppen wechseln können – also eine soziale Gruppe gegen eine andere tauschen –, desto stärker fragmentiert sich die Gesellschaft.

"Je weniger verschiedene Gruppen miteinander interagieren, desto leichter zerfällt die Gesellschaft", so Stefan Thurner, Leiter des Complexity Science Hub. Eine Erklärung dazu liefert unter anderem die Social-Balance-Theorie: Menschen orientieren sich an den Meinungen ihrer Freunde – und lehnen die ihrer Feinde eher ab. Je stärker eine Gesellschaft fragmentiert ist, umso tiefer werden die Gräben zwischen den Gruppen.

Auch für Klimaschutzmaßnahmen sei der Blick auf Fragmentierung daher wichtig, sagt Thurner. Schließlich müssen diese von möglichst vielen Menschen mitgetragen werden. Experimente wie der Klimarat zeigen, wie gut eine stärkere Vermischung funktioniert – er bestand aus 88 Bürgerinnen und Bürgern mit vielfältigen politischen Einstellungen.

  • Mit welchen Ressourcen?

Ein weiterer Ansatz der Protestforschung rückt die Ressourcen, auf die eine Bewegung zugreifen kann, ins Zentrum. Das reicht von der Finanzierung über die Möglichkeiten zur Mobilisierung weiterer Menschen bis hin zur Unterstützung von Teilen der Elite.

Zu Letzterem sagt Karin Fischer von der Johannes-Keppler-Universität Linz: "Besteht zum Beispiel ein Konflikt in der Elite, kann das eine Gelegenheit für Bewegungen schaffen, um einflussreiche Verbündete zu finden." Als Beispiel nennt sie die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Unterstützung der Partei der Demokraten bekam. Der Blick auf verschiedene Ressourcen könne dabei helfen, eine Bewegung besser zu verstehen.

  • Das Dilemma: Sympathie oder Schlagzeilen?

Die Letzte Generation blockiert mit Klebeaktionen den Frühverkehr, beschüttet Gemälde in Museen mit Suppe und legt mit Fahrrädern auf der Landebahn den Flugbetrieb in Berlin lahm. Damit sorgt die Gruppe ohne Zweifel für Aufmerksamkeit – die wohl wichtigste Währung für eine aktionistische Bewegung.

Doch radikalere Aktionen sorgen nicht nur für mehr Schlagzeilen, sondern auch für mehr Ablehnung in der Bevölkerung. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung aus dem Jahr 2020 mit dem Titel "The Activist’s Dilemma".

So bezeichnen die Forschenden die Abwägungsfrage, vor die Aktivistinnen und Aktivisten gestellt werden: Besser zu aufsehenerregenden Aktionsformen greifen und sich unbeliebt machen oder doch friedlich demonstrieren und dafür nur als Randnotiz in den Medien landen? Für die Letzte Generation ist die Entscheidung klar, Aktionismus sei kein Beliebtheitswettbewerb, betont die Gruppe stets. Die These ist in der Wissenschaft ohnehin umstritten – denn letztlich geht es nicht um die Zustimmung gegenüber einer Gruppe, sondern ihren Forderungen.

  • Die "Kleber" könnten den Fridays helfen

Radikalere Klimagruppen könnten die 2019 entstandene Massenklimabewegung als Ganzes diskreditieren, wird oft gemutmaßt. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) sagte etwa nach einer Klebeaktion im Naturhistorischen Museum im November, dass es wichtig sei, "dass man die Leute auf dem Weg zur Lösung nicht verliert".

Doch genau das Gegenteil könnte der Fall sein: Gruppen wie Extinction Rebellion, Letzte Generation oder Just Stop Oil lassen die Klimastreiks von Fridays for Future moderater und damit mehrheitsfähiger aussehen. Die Klimabewegung könnte daher in Summe profitieren. Die Soziologie nennt das den Effekt der radikalen Flanke.

  • Wenn eine Bewegung "gemainstreamt" wird

Jede Bewegung hat Arme, die ihre Anliegen mit mehr Nachdruck vorbringen und gegebenenfalls zu radikaleren Methoden greifen. Diese radikalere Spitze werde häufig von Adressaten eines Protests kriminalisiert – gleichzeitig werde der übrige Teil einer Bewegung in den Mainstream geholt, sagt die Protestforscherin Karin Fischer von der Johannes-Kepler-Universität Linz.

Das sei eine bewährte Strategie, mit der Bewegungen gespalten und demobilisiert werden, erklärt sie. Mit der Spaltung geht häufig eine Abschwächung von Forderungen einher. "Das ist die große Kunst für jede Bewegung: sich nicht spalten zu lassen." (Philip Pramer, Alicia Prager, 28.2.2023)