Im Gastblog zeigt Olena Levitina, wie politische Narrative auch auf der Ebene der Kleidung fortgesetzt werden.

Bei jeglicher Kunst geht es nicht nur um das Kunstwerk selbst, sei es ein Bild, ein Lied oder ein Kleidungsstück. Kunst beinhaltet viel mehr als nur das Äußere: Ein Kunstwerk spiegelt die Kultur einer Gesellschaft wider und wird gleichzeitig zum Bestandteil solcher. Kunst kann ein Zeichen setzen.

Im Fall der Ukraine ist die ukrainische Kunst ein bedeutsames Mittel, um der Welt zu zeigen, dass es sich hier um ein authentisches Land mit eigener Kultur handelt. Nach und nach wird klar, dass die ukrainische Kunstszene reich an Talenten war und ist. Nach Jahrzehnten der Primitivierung und Stagnation kommt die ukrainische kulturelle Gegenoffensive inmitten des russischen Krieges in Schwung.

Erfolge der ukrainischen Kulturpolitik

Das Metropolitan Museum of Art hat vor kurzem drei ukrainische Künstler, die vorher als russisch bezeichnet wurden, als ukrainisch anerkannt: Arkhyp Kuindschi, Iwan Aiwasowski und Illia Repin – richtiger wäre es jedoch, Rypin zu sagen. Noch dazu, hat das Metropolitan Museum of Art in New York Edgar Degas’ "russische Tänzerinnen" in "Tänzerinnen in ukrainischer Kleidung" umbenannt.

Auch wenn diese Tatsache nicht bedeutsam scheint, ist die Anerkennung der ukrainischen Kunstschaffenden ein wichtiger Schritt in Richtung Wahrnehmung der ukrainischen Kultur. Dafür haben Aktivistinnen und Aktivisten wie Tetyana Filevska vom Ukrainian Institute jahrelang gekämpft. Die Institutionen wie das Ukrainian Institute organisieren nicht nur verschiedene Veranstaltungen, die der ukrainischen Kultur gewidmet sind, sondern kommunizieren tagtäglich mit Museen, Kuratorinnen und Kuratoren sowie Politikerinnen und Politikern aus der ganzen Welt, damit die Werke der ukrainischen Künstlerinnen und Künstler tatsächlich als ukrainisch dargestellt werden. Die Kommunikation fällt meistens nicht leicht.

Die "kleine" ukrainische Kultur

Die Schwierigkeiten des Kampfes um ukrainische Kunst liegen teilweise im weltweit geprägten Bild der "großen russischen Kultur". Das Russische Kaiserreich hat seine imperialistischen Ziele, wie jedes Weltreich, verfolgt und die Kulturen der kolonisierten Völker unterdrückt. Bis heute wissen die meisten Menschen nicht so viel über die Kulturen der Ukraine, Belarus, Itschkeria, Kirgisistan, oder andere ehemalige Teile des Russischen Reiches.

Im Fall der Ukraine hat man versucht zu zeigen, dass diese Kultur der russischen sehr ähnlich ist und kaum etwas Authentisches an sich hat. Diese Versuche waren teilweise sehr erfolgreich. Bis heute ist das russische Konzept der "Geschwister", bei der die Ukraine "der kleine Bruder" des großen Russlands ist, sehr populär.

Dadurch ist das Bild der "kleinen ukrainischen Kultur" entstanden. Das Russische Reich hat mehrere Versuche unternommen, alles Ukrainische zu unterdrücken. Alleine die ukrainische Sprache, die zu dieser Zeiten offiziell "kleinrussischer Dialekt" hieß, wurde mehrmals verboten: Insgesamt gab es in den 337 Jahren, in denen die Ukraine unter Fremdherrschaft stand, 60 Verbote der ukrainischen Sprache, mindestens 49 davon hat Russland beziehungsweise einer seiner Vorgängerstaaten erlassen.

Als russisch angeeignet

Der Begriff "Kleinrussland" (russisch Малороссия, Malorossija), den die russischen Medien noch heute gerne benutzen, kam aus dem altgriechischen "Kleine Rus" (altgriechisch Μικρὰ) und umfasste das Gebiet, wo die Kyjiwer Rus entstanden ist. Im Gegensatz wurde unter "Große Rus" das später kolonisierte Territorium verstanden. Dieser Begriff wird für die Betonung der Kleinheit und Unbedeutsamkeit der Ukraine gegenüber Russland benutzt.

Die ukrainische Kultur wurde als klein und arm dargestellt. Gleichzeitig werden die bedeutsamen Kunstschaffenden wie Arkhyp Kuindschi, Iwan Aiwasowski, Illia Rypin und später Kasymyr Malewytsch, Oleksandr Arkhypenko, Dawyd Burliuk, Sonia Delaunay oder sogar Ilja Kabakow von Russland angeeignet und weltweit als russische Kunstschaffende präsentiert.

Kitsch als Ergebnis von Unterdrückung

Die Sowjetunion hat, als Erbin der russischen kaiserlichen imperialistischen Manier, die Politik der Primitivierung kolonisierter Völker weitergeführt. Die Bevölkerung der Sowjetunion sollte sich zuerst als "sowjetische Menschen" sehen – erst dann durfte man ihre eigene Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe zeigen.

Die Kulturen der eroberten Länder wurden nicht direkt verboten, stattdessen wurden sie verzerrt und primitiviert. Man durfte bis zu einem bestimmten Ausmaß Ukrainerin oder Ukrainer sein: Alles, was für die sowjetische Regierung zu ukrainisch war, wurde als nationalistisch und somit gefährlich für die Sowjetunion bezeichnet.

Dafür sind viele Menschen im Gefängnis gelandet oder haben sogar ihr Leben verloren, wie die Vertreterinnen und Vertreter der ukrainischen "erschossenen Renaissance". In anderen sowjetischen Republiken war die Lage gleich. Durch die dauerhaften Verbote und Unterdrückungen ist eine simplifizierte primitive ukrainische Kultur entstanden, die auch "Scharowarschtschyna" genannt wird.

Nur mehr ein Echo der Kultur

Scharowarschtschyna kommt höchstwahrscheinlich aus dem ukrainischen "Scharowary". Das ist die Variante des Wortes "Sirwal", die in der Ukraine von den iranischen Sprachen abstammt. Sirwal sind Pumphosen, die Ukrainerinnen und Ukrainer früher getragen haben. Das waren weite Hosen aus natürlichen Materialien –im Gegensatz zu dem, was während der Sowjetzeiten popularisiert wurde: bunte, blaue oder rote Hosen aus Atlas.

Ein Beispiel für die kitschige ukrainische Tracht.
Foto: https://www.istockphoto.com/de/portfolio/florin1961

Kurzgefasst steht Scharowarschtschyna für Kitsch, der nur ein Echo der ukrainischen Kultur ist. Der Sinn dieses Phänomens liegt darin, den Inhalt durch Form zu ersetzen: Aus den traditionellen ukrainischen Wyschywanka Hemden wurden Blusen mit stilisierten bunten Blumen, aus den traditionellen Scharowary rote satin Hosen, aus dem traditionellen Kopfschmuck Kränze aus künstlichen Blumen. Statt um Qualität ging es um Masse.

Ein Beispiel für authentische ukrainische Tracht.
Foto: https://www.istockphoto.com/de/portfolio/olegmit

Per se ist die Form gleich geblieben: Ob kitschig oder nicht, bleibt Wyschywanka ein Hemd mit gesticktem Muster. Nur die Stickerei der authentischen Wyshywynkas beinhaltet nicht bloß bunte Blumen: Jedes Muster symbolisiert etwas und hat fast eine sakrale Bedeutung. In jeder Region der Ukraine sind verschiedene Muster der Hemden charakteristisch. Ähnlich wie in Österreich hat auch die Tracht in verschiedenen Gebieten der Ukraine ihre eigenen Besonderheiten.

Wyschywankas gibt es in diversen Ausführungen mit diversen Mustern und Farben.
Foto: Olena Levitina

Gegenentwurf und versuchte Modernisierung

Auch wenn dieser Kitsch überall überwogen hat und von der Regierung ermutigt wurde, gab es Menschen, die dagegen gekämpft haben. Einer davon war Libow Pantschenko, die ukrainische bildende Künstlerin und Vertreterin der dissidentischen Bewegung, der "Sechziger". Ihre Designs waren eine moderne Interpretation der ukrainischen Tracht, die der Popularisierung der ukrainischen Tracht gedient haben und für die zukünftigen Generationen eine Inspiration waren.

Liubow Pantschenkos moderne Interpretation der traditionellen Tracht
Foto: Ukrainisches Institut für Nationale Erinnerung: Liubov Panchenko. Revival. Album. S. 244

Liubow Pantschenko ist im Alter von 84 Jahren im Oktober 2022 gestorben, nachdem sie während der russischen Okkupation von Butscha einen Monat lang gehungert hat.

Kampf gegen Kitsch

Der Kitsch geht über die Kleidung hinaus: Andere Bestandteile der Kultur, vor allem Tänze und Lieder, waren davon auch betroffen. Anstatt authentischer Gesänge wurden die Lieder über Salo (ukrainisch Speck) und Horilka (ukrainisch Schnaps) mit einfacher Melodie popularisiert. Das diente wieder der Primitivierung der ukrainischen Kultur.

Nichtsdestotrotz, gab es auch in der Musikindustrie einen Hoffnungsschimmer: Der sogenannte "Mustache Funk". Dabei handelt es sich um das Phänomen der ukrainischen Pop-Musik der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts. Während Breschnews Ära der Stagnation, sind in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik Musikgruppen bekannt geworden, deren Lieder noch heute populär sind. Auf den Begriff "Mustache Funk" sind die Schöpferinnen und Schöpfer des gleichnamigen Dokumentarfilms gekommen. Die Erklärung dafür ist einfach: fast alle männlichen Vertreter dieser Musikrichtung hatten einen Schnurrbart.

Die Filmemacherinnen und Filmemacher von "Mustache Funk" sind der Meinung, dass der Erfolg dieser Musik an der gemeinsamen Form liegt: Die Vielstimmigkeit, die für die östliche Ukraine charakterisch ist, und die in den Karpahten populären zerrissenen Rhythmen, die mit dem amerikanischen Funk überlagert sind. Diese Musikerinnen und Musiker mit extravaganten Anzügen und interessanten Liedern waren frischer Wind für die ukrainische und sowjetische Musikszene.

Mysteriöser Tod von Wolodymyr Iwasiuk

Einer der bedeutendsten Vertreter von Mustache Funk war Wolodymyr Iwasiuk. Während seiner Karriere hat Iwasiuk 57 Instrumentalstücke und 107 Lieder erschaffen. Viele davon kennen die Ukrainerinnen und Ukrainer heute noch auswendig.

Im Mai 1979 wurde der 30-jährige Wolodymyr Iwasiuk tot aufgefunden. Der KGB nannte als Todesursache Suizid, jedoch sind viele Menschen mit dieser Erzählung nicht einverstanden. Iwasiuk war sehr berühmt und widmete viele seiner Lieder der Ukraine und ihren Bräuchen und Besonderheiten, was für die sowjetische Regierung zu nationalistisch gewesen sein könnte. Die vorherrschende Meinung ist, dass Iwasiuk vom KGB getötet wurde. Diese Version bestätigte 2015 auch die Staatsanwaltschaft der Ukraine. Die Ermittlungsdetails bleiben bis heute in Moskau und sind geheim.

Wolodymyr Iwasiuk hat einen riesigen Beitrag für die ukrainische Kultur geleistet. Das erste ukrainische Musikfestival, "Tschervona Ruta", wurde nach seinem Lied benannt. Sein Tod ist zu einem wichtigen Moment der ukrainischen Geschichte während der sowjetischen Periode geworden: Zu seinem Begräbnis in Lwiw sind tausende Menschen gekommen, das Ereignis wurde zur ersten Massendemonstration gegen die sowjetische Regierung.

Eine neue Welle des Kitsch

Diese kitschige Kultur ist nicht ein einzigartiges Phänomen der Ukraine, denn zu einem bestimmten Ausmaß findet man Kitsch überall auf der Welt. Aber wenn man davon überwältigt wird und kaum etwas anderes konsumieren kann, bildet dies die Vorstellung über die gesamte Kultur einer Gesellschaft. Der ukrainische Kitsch hat das Bild der Ukraine in der Welt beeinflusst. Das Phänomen von "Scharowarschtschyna" wurde viele Jahre lang geprägt und selbst Ukrainerinnen und Ukrainer sind davon betroffen: Auch jetzt reproduzieren Ukrainerinnen und Ukrainer diesen Kitsch meist unwissentlich aus patriotischen Gefühlen heraus.

Heutzutage versuchen viele Menschen mehr über die Ukraine zu erfahren, wobei sie häufig auf eine große Masse von verzerrtem Kitsch stoßen. Das verzerrt auch die gesamte Vorstellung der ukrainischen Kultur. Die Ukraine ist jetzt im Trend, was für das Land zumeist nützlich ist. Man versucht, möglichst viele Ukraine-bezogene Sachen zu produzieren. Aber wo es um Quantität geht, leidet die Qualität. Zur Zeit entsteht eine neue Welle von Kitsch, der Neo-Scharowarstschyna genannt wird.

Kampf um Authentizität und Anerkennung

Kitsch ist eine Pseudokultur für Massen, die wenig bis keinen ästhetischen Wert hat. Es ist daher eher eine Nachahmung der Kultur, basierend auf Klischees und Stereotypen. Gegen Pseudokultur kann man nur mit authentischer Kultur ankämpfen. Und dafür sollte diese popularisiert werden. Dabei können die kulturellen Institutionen weltweit einen Beitrag leisten, indem sie ukrainische Werke wiederentdecken.

Arkhyp Kuindschi, der den größten Teil seines Oeuvres der ukrainischen Natur gewidmet hat, wurde erst nach einem Jahr des russischen Angriffs auf die Ukraine (dessen Vorgeschichte bis in das Jahr 2014 zurückgeht) als ukrainischer Künstler anerkannt. Dabei sollte man in Betracht ziehen, dass Kuindschis Werke noch im Jahr 2022 aus Mariupol gestohlen wurden und sich derzeit in Russland befinden.

In der Wiener Albertina gibt es immer noch jenen Raum mit dem Namen "Avantgarde in Russland", wo unter anderem die Arbeiten ukrainischer Künstlerinnen und Künstler dargestellt werden. Solche Beispiele sind fast in jedem bekannten Museum der Welt zu finden. Es gibt noch viel zu tun, um ein korrekteres Bild der Ukraine in der Welt zu schaffen. Und während die Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre eigene Identität, ja sogar ihre Existenz kämpfen, sollten die Versuche dieser Menschen, das eigene Kulturerbe zurückzugewinnen, nicht untergraben werden. (Olena Levitina, 21.3.2023)