Engelbert Dollfuß in seinem Arbeitszimmer in der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer.

Foto: ÖNB Pammer Film/ÖNB /Max Fenichel, (1885-1942)

Wien – "ORF erinnert an 90. Jahrestag der Selbstausschaltung des Parlaments und 85. Jahrestag des 'Anschlusses'": Mit diesem Titel informierte der ORF am Dienstag über seinen Zeitgeschichteschwerpunkt ab 3. März in ORF 2, ORF 3, 3sat, Ö1 und auf ORF.at.

Der Titel der Aussendung sorgt nun für Kritik. "Es ist ungeheuerlich, dass der ORF wenige Tage vor dem 90. Jahrestag der Ausschaltung des österreichischen Nationalrats unter Dollfuß die Propaganda der Dollfuß-Diktatur übernimmt, wo es sich doch tatsächlich um einen schrittweisen Staatsstreich handelte, um das Parlament auszuschalten und eine autoritäre Diktatur zu errichten", sagt SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch. "Der Mythos von der angeblichen 'Selbstausschaltung des Parlaments' bedient antidemokratische und antiparlamentarische Stereotype und ist längst widerlegt. Der ORF sei daran erinnert, dass er einen Bildungsauftrag und nicht einen Geschichtsklitterungsauftrag hat." Deutsch fordert "eine sofortige Klarstellung seitens des ORF".

ORF "betreibt hier keine Dollfuß-Idealisierung"

Via Twitter entschuldigt sich ORF-Sprecher Martin Biedermann: "Ja, ist historisch falsch, eine falsche Formulierung in der Aussendung. Sorry. Wer den ganzen Text liest und den Schwerpunkt sieht, wird aber erkennen, dass der ORF hier keine Dollfuß-Idealisierung betreibt", schreibt er als Antwort auf entsprechende Hinweise.

Netzl: "Verharmlosung der damaligen Vorgänge"

Auch Gerald Netzl, Bundesvorsitzender des Bundes Sozialdemokratischer FreiheitskämpferInnen, Opfer des Faschismus und aktiver AntifaschistInnen, betont, dass die Überschrift der ORF-Aussendung irreführend sei, da es sich nach dem Stand der Geschichts- und Rechtswissenschaften eindeutig um einen faschistischen Putsch gehandelt habe, bei dem die Demokratie außer Kraft gesetzt worden sei und der Austrofaschismus begonnen habe. Netzl: "Eine derartige Bezeichnung verschleiert die tatsächliche Bedeutung und Tragweite der Ereignisse von 1933 und stellt eine Verharmlosung der damaligen Vorgänge dar. Ein Parlament, das von dutzenden Polizisten verfassungswidrig am Zusammentreten gehindert wurde, kann sich ja wohl kaum selbst ausgeschaltet haben."

Er kritisiert auch den Titel von zwei erstmals ausgestrahlten Dokumentarfilmen, die im Zusammenhang mit dem Jahrestag gezeigt werden und den Begriff "Kanzlerdiktatur" verwenden. "Dieser Begriff verschleiert bewusst den faschistischen Charakter des Regimes von 1933 bis 1938 und verharmlost die Verbrechen, die in dieser Zeit begangen wurden." Er fordert vom ORF, "seine Verantwortung als öffentlich-rechtlicher Sender wahrzunehmen, genau über historische Ereignisse zu berichten und jene Begriffe zu verwenden, die historische Ereignisse am besten beschreiben".

Dass der ORF dem Austrofaschismus und dem "Anschluss" einen Schwerpunkt widme, sei jedoch "lobenswert und zeigt, dass der Rundfunk hier guten Willens ist. Gleichzeitig dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Geschichte durch falsche, der Dollfuß-Propaganda entspringende Begriffe verharmlost oder gar verfälscht wird."

Kritik am Titel der ORF-Aussendung kam am Dienstag auch von der SPÖ-Sprecherin für Erinnerungskultur, Sabine Schatz, und Paul Stich, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Jugend. Schatz: "Dass der ORF heute noch den Mythos der 'Selbstausschaltung' bemüht, erschüttert mich. Dieser Begriff wurde von Dollfuß' Austrofaschisten und seinen Verteidigern in der Zweiten Republik verwendet, um zu verschleiern, dass es sich dabei um einen faschistischen Putsch gegen die demokratische Erste Republik handelte. Das Parlament war handlungsfähig, die Abgeordneten wurden damals auf Befehl Dollfuß' an der weiteren Zusammenkunft gehindert. Das muss gerade vom ORF, der einem Bildungsauftrag verpflichtet ist, auch so benannt werden." (red, 1.3.2023)