Bald vier Wochen nach dem Jahrhundertbeben im Südosten der Türkei und in Syrien werden jetzt die Auswirkungen der Katastrophe immer deutlicher. Allein in der Türkei wurden bislang fast 50.000 Tote gezählt, in beiden Ländern zusammen sind es ungefähr 55.000, die genaue Zahl kennt niemand. Auch wie viele Menschen noch tot unter den Trümmern ihrer Häuser liegen, wird erst gar nicht mehr ermittelt. Einige Katastrophenhelfer schätzen, dass zu den geborgenen Toten sicher noch einmal eine ebenso hohe Zahl Verstorbener dazukommt. Außerdem ist das Jahrhundertbeben immer noch nicht wirklich vorbei.

VIDEO: Zahlreichere Erdbeben-Überlebende sind noch in provisorischen Zelten untergebracht. Auch in der südanatolischen Kleinstadt Nurdağı, die vollständig abgerissen werden soll. Das STANDARD-Videoteam war vor Ort
DER STANDARD

Es hat zahllose Nachbeben gegeben, zuletzt Anfang dieser Woche versetzte eine Erschütterung der Stärke 5,2 die Einwohner von Malatya in Angst und Schrecken. Wer selbst ins Katastrophengebiet fährt, ist vom Ausmaß der Zerstörungen erschüttert, auch wenn er schon vorher darüber informiert war.

Am letzten Wochenende machte der Direktor des Welternährungsprogramms, David Beasley, diese Erfahrung. Er besuchte die völlig zerstörte Stadt Antakya. Anschließend sagte er, die Situation könne nur als "apokalyptisch" bezeichnet werden.

Missmanagement

Nach den Schockwellen der Beben kommen jetzt auch die politischen Schockwellen für die Regierung, zumindest in der Türkei. Angesichts des immer klarer werdenden Missmanagements der Regierung, die es tagelang nicht vermochte, ausreichend Rettungskräfte für das Katastrophengebiet zu mobilisieren, und bis heute noch nicht für alle Betroffenen Notunterkünfte bereitgestellt hat, äußert sich der Unmut großer Teile der Bevölkerung zunehmend deutlicher.

Die Wut auf die Regierung wächst nicht nur in den direkt vom Erdbeben betroffenen Gebieten.
Foto: IMAGO/Celestino Arce Lavin

Ein wichtiger Indikator für die Stimmung ist das Verhalten bei großen Sportereignissen, einem der letzten Orte wo sich größere Menschenmengen noch versammeln dürfen. Zuerst am letzten Samstag im Stadion von Fenerbahçe, dem größten Verein in Istanbul auf der asiatischen Seite der Stadt, dann bei dem Spiel des Traditionsvereins Besiktas am Sonntag nutzten die Menschen die Gelegenheit, um lautstark ihre Wut zu artikulieren. Mehr als 60.000 Fans forderten in Fenerbahçe in minutenlangen Sprechchören den Rücktritt der Regierung, in Besiktas warfen die Fans zunächst zum Zeichen der Trauer Plüschtiere auf den Rasen, um dann ebenfalls minutenlang die Regierung auszubuhen. Zuletzt hatte es solche politischen Manifestationen in Fußballstadien während der sogenannten Gezi-Proteste vor zehn Jahren gegeben. Damals sangen sogar Fans der eigentlich verfeindeten drei großen Istanbuler Klubs gemeinsame Lieder.

Verkaufte statt verschenkte Zelte

Für weitere Spannungen sorgte am Wochenende eine Enthüllungsgeschichte der oppositionellen Zeitung "Cumhuriyet". Darin deckte ein Reporter auf, dass der türkische Rote Halbmond "Kizilay" in den allerersten Tagen nach dem Beben winterfeste Zelte, die dringend im Erdbebengebiet gebraucht wurden, an die private Hilfsorganisation Ahbap für 2,3 Millionen Euro verkauft hat, statt sie auf schnellstem Weg kostenfrei den Erdbebenopfern zur Verfügung zu stellen. "Ein unglaublicher Skandal", schrieb "Cumhuriyet", und Meral Aksener, die Vorsitzende der Oppositionspartei IYI-Parti, forderte den Kizilay-Vorsitzenden zum Rücktritt auf. Demonstrationen am Hauptsitz von Kizilay in Ankara wurden durch die Polizei verhindert, rund 100 Personen wurden kurzzeitig festgenommen.

Angesichts dieser Ereignisse kommen die türkische AKP-Regierung und Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer mehr unter Druck. Ganz entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten zeigte der Präsident sogar einen Anflug von Demut. Vor Betroffenen in der zerstörten Stadt Adiyaman bekannte Erdogan am Montag erneut, dass der staatliche Katastrophenschutz AFAD "nicht mit der gewünschten Effektivität" gearbeitet hätte. Deswegen bitte er um Vergebung.

Mitschuld der Regierung

"Doch Sterbliche machen Fehler" fügte er gleich hinzu, deswegen sollten die Leute nicht auf "die Narren" hören, die seiner Regierung nun die Schuld zuschieben wollten. Stattdessen sollten die Menschen ihm ein Jahr Zeit geben, um die Wunden des Erdbebens zu heilen.

Der Präsident beim Besuch von Verletzten.
Foto: APA/AFP/TURKISH PRESIDENTIAL PRE

Allerdings bezeichnete bereits jetzt die türkische Architektenkammer TMMOB sein Versprechen, einen Großteil der Häuser innerhalb eines Jahres wiederaufzubauen, als reine Propaganda. Die Architektenkammer wirft dagegen der Regierung vor, eine große Mitschuld an den dramatischen Folgen des Erdbebens zu haben. Von den rund 173.000 Gebäuden, die beim Erdbeben zerstört wurden, seien mehr als die Hälfte erst nach 2001 gebaut worden, als die strengeren Sicherheitsauflagen für erdbebensichere Häuser bereits in Kraft waren, schrieb die Kammer in einem am Wochenende veröffentlichten Bericht. Bei allen diesen Häusern sind die Vorschriften offenbar missachtet oder bewusst umgangen worden. Außerdem habe die Regierung sich mitschuldig gemacht, weil sie aus politischen Gründen in Vorwahlzeiten Schwarzbauten mehrmals amnestiert habe.

Hunderte Ermittlungen

Um die Mitschuld der Regierung zu vertuschen, stellt die Regierung jetzt Bauunternehmer und Immobilienspekulanten als die Alleinschuldigen für den gigantischen Pfusch am Bau dar. Justizminister Bekir Bozdağ erklärte, es liefen insgesamt 600 Ermittlungsverfahren gegen Personen aus der Baubranche, 184 Personen seien in diesem Zusammenhang bereits festgenommen worden. Ob diese Aktionen eine Niederlage Erdoğans bei den offenbar nun doch für Mai geplanten Wahlen verhindern können, scheint indes sehr fraglich.

Zelte, die tatsächlich ankamen.
Foto: APA/AFP/OZAN KOSE

Warum der Präsident die Wahlen angesichts einer drohenden Niederlage nun doch nicht verschieben will, erklären seine Kritiker damit, dass die wirtschaftliche Situation in der Türkei sich weiter verschlechtern wird.

Allein die Kosten für einen Wiederaufbau in den Erdbebengebieten sind gewaltig. Die Weltbank schätzt die Schäden auf rund 40 Milliarden US-Dollar, für den Wiederaufbau müsse man mit dem Doppelten rechnen. Doch die staatlichen Kassen sind leer. Die letzten Reserven wurden bereits für Wahlgeschenke aufgebraucht. Würden die Wahlen verschoben, könnte die Regierung nicht mehr nachlegen. (Jürgen Gottschlich, 2.3.2023)