Das Dirigieren sei gewesen wie ein Tanz, und die Erfahrung, vor einem Orchester zu stehen, habe sie nachhaltig beeindruckt, so Cate Blanchett zu ihrer Rolle als Dirigentin Lydia Tár.

Foto: Focus Features, LLC.

Tár ist Lydia Tár. Ein Künstlername, wie sich im Laufe von Todd Fields gleichnamigem Dirigentendrama herausstellt. Auf das Gendern kann hier getrost verzichtet werden, denn Tár lehnt die Bezeichnung Maestra ab. Sie ist Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, sie ist Maestro. Aus armen Verhältnissen hat sie sich emporgearbeitet, aber das sieht man ihr nicht an. Nun ist sie ein vielfach prämierter Star, wie die Aufzählung ihrer fiktiven Meriten durch den echten New Yorker-Autor Adam Gopnik zu Filmbeginn verrät.

Nicht nur durch den Cameo-Auftritt Gopniks wirkt der Film derart wahrhaftig, dass bei seiner Weltpremiere am Festival in Venedig vielfach gegoogelt wurde, ob es eine Lydia Tár tatsächlich gebe. Auch Fields’ Einsatz von Handys bringt brüchige Authentizität ins Bild. Brüchig, weil durch die Handybildschirme eine zweite, laienhafte Bildebene die genauen Kadrierungen, scharfen Kontraste und stylishen Oberflächen der Filmbilder durchkreuzt und so eine zweite Perspektive freilegt.

Kunstvolle Bild-Ton-Scheren

Wie zentral dieser Bruch für die vielschichtige Erzählung ist, wird ganz am Anfang deutlich. Zu sehen ist ein Handybildschirm mit Videolivechat, darauf die "Maestro": schlafend zusammengesunken im Sessel eines Privatjets, und der Chatdialog zweier Unbekannter, wovon eine Person offensichtlich im Flugzeug sitzt. Die beiden machen sich, in einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung, über Tár lustig. Ob Lydia wohl ein Gewissen habe, fragt eine Sprachnachricht die andere – und dann die Feststellung: "Du liebst sie noch."

Daraufhin passiert wieder etwas Ungewöhnliches. Der Abspann rollt an, unterlegt mit indigenem Gesang. Danach erst setzt Gropniks Vorstellung Lydia Társ ein. Doch noch bevor sie selbst die Bühne betritt und die Bild-Ton-Schere sich endlich schließt, ist eine Montagesequenz zu sehen: Társ nackte Füße beim Sortieren ihrer Deutsche-Grammophon-Plattensammlung auf dem Parkettboden, ein anderer Fuß, der ihren intim berührt. Eine Anprobe beim Maßschneider, eine Aufputschpille, und erst dann der Schnitt zum stilechten New Yorker- Interview.

Willi und Blanchett wie maßgeschneidert

Innerhalb der ersten zehn Minuten legt Tár bereits so viele Spuren und Charakterschichten frei, dass man ganz und gar eingefangen wird von diesem Kunstmonstrum eines Films. Das ist zum großen Teil der analytisch-rhythmischen Montagearbeit Monika Willis zu verdanken, die für ihren Filmschnitt von Tár für einen Oscar nominiert ist.

Editorin Monika Willi hat gute Chancen auf einen Oscar.
Foto: Robert Newald

Aber auch dem kontroversen Charakter Lydia Társ, den Cate Blanchett kongenial verkörpert. Die Stardirigentin, für die die Musik immer an erster Stelle steht, die das Maßgeschneiderte wie eine Rüstung trägt, die offen ihre Homosexualität auslebt und die mit ihrem Anzuglook möglicherweise nicht von ungefähr an eine bestimmte deutsche AfD-Politikerin erinnert. Dass die Figur auch Parallelen zu einer anderen Dirigentin, Marin Alsop, aufweist, hat diese beunruhigt. Alsop sieht in der Darstellung der übergriffigen Lesbe einen frauenfeindlichen Topos. Das mag stimmen, wird aber dem Film nicht gerecht. Lydia Tár ist vor allem konstruierte Fiktion, ein ego- und erotomanischer, aus der Zeit gefallener Machtmensch. Ihr Begehren richtet sich auf ihre weit jüngeren Studentinnen, die sie umgarnt, bis sie ihr ins Netz gehen. Früher nannte man es Verführung, heute heißt es Grooming.

Focus Features

Unaufgelöster Generationenkonflikt

In diesen zwei Begriffen zeitigt sich bereits der Generationenkonflikt, der Tár motivisch durchzieht. Überdeutlich in der Szene, in der Lydia Tár als Dozentin der renommierten Musikschule Juilliard den jungen Max zurechtweist, weil er Bach aufgrund dessen Misogynie ablehnt. Als Tár Max Bach dann am Klavier vorspielt, ist der Effekt nicht der erhoffte. Max fühlt nichts, Bach berührt ihn nicht. Doch anstatt dass er der taffen Dirigentin erläutert, dass er moderne Musik bevorzugt, greift er, wohl aus Unsicherheit, wie ein nervöses Zucken in seinem Bein bezeugt, auf Phrasen zurück: Bach sei nun einmal ein alter weißer Mann.

Ein Köder, den die Mittfünfzigerin Lydia Tàr nur zu gern aufschnappt und bis zur Eskalation durchwalkt. Interessant an der plakativen Konfrontation zwischen "Snowflake" Max und "L’art pour l’art"-Monster Lydia ist dann, dass keiner von beiden gewinnt. Sie reagiert hochemotional auf seine, wie sie meint, Social-Media-Philosophie. Er fühlt sich gedemütigt. Beide hören einander nicht.

Töne statt Menschen

Lydia Tár scheint niemanden richtig zu hören, nur auf Musik und Geräusche reagiert sie hochsensibel: Auf ein Metronom in dem stilvollen Berliner Appartement mit Betonwänden, das sie sich mit ihrer Lebensgefährtin Sharon (Nina Hoss) und ihrer gemeinsamen Tochter teilt, auf ein Summen in ihrer Zweitwohnung, in die sie sich zurückzieht und wohin sie ihre Liebhaberinnen bestellt. Im Gegensatz zu Geräuschen dringen Menschen gar nicht erst zu ihr vor. Etwa ihre Ex-Schülerin Krista, die sie mit E-Mails bombardiert, welche aber von der devot-störrischen Assistentin Francesca (Noémie Berlant aus Portrait einer Frau in Flammen) abgefangen werden.

Als Krista dann Suizid begeht – und zwar nicht nur, weil Lydia sie abgewiesen, sondern auch, weil diese ihre Karriere sabotiert hat – findet sich Lydia in einem Sturm ungezügelter Gefühle wieder: Sharon und Francesca geben ihr den Laufpass, die Welt um sie herum empört sich über ihre Vorliebe für junge Mädchen. Und da Lydia Tár mit Gefühlen nicht gut kann, dreht sie durch. Wenn Lydia dann nach der Tour de Force, die auch den Herzschlag des Films merklich beschleunigt, scheinbar am Ende ist, erhebt sie sich doch wieder. Denn auch neue Musik ist Musik. (Valerie Dirk, 1.3.2023)