Die Leidenschaft von Raphael Gielgen ist es, Fragen zu stellen.
Foto: Vitra; Wolfgang Pohn; Gaby Gerster; Gerhard Wasserbauer; Katharina Gossow

Raphael Gielgen besucht jährlich unzählige Unternehmen, Start-ups, Kongresse, Universitäten oder das Massachusetts Institute of Technology. Sein Arbeitsplatz ist die ganze Welt und die Zukunft obendrein. Er ist rastlos, neugierig, und seine Leidenschaft ist es, Fragen zu stellen. Das war schon als Kind so, sagt der Deutsche. Einen besonderen Schwerpunkt in seiner Arbeit bilden Schlüsseltechnologien und neue Arbeits- und Organisationsmodelle. Seit 2014 steht er in Diensten von Vitra, einem der weltweit renommiertesten Möbelhersteller, für die Gielgen um die 150 Tage des Jahres unterwegs ist.

STANDARD: Wohin führte Sie Ihre letzte Reise, und was haben Sie mitgebracht?

Gielgen: Eine meiner letzten Reisen brachte mich nach Davos zum Weltwirtschaftsforum. Mitgebracht habe ich die Erkenntnis, dass die Menschheit im Moment mit mehr Fragen als mit Antworten zu Bett geht.

STANDARD: Und woran liegt das?

Gielgen: Es liegt daran, dass wir eine Phase erreichen, in der alte Techniken und Regeln nicht mehr für die Wirtschaft von morgen funktionieren. Wir befinden uns im Gestern, im Heute und im Morgen. Irgendwo dazwischen.

STANDARD: Geht es etwas konkreter?

Gielgen: Ich war vor kurzem bei einer der Topagenturen in Berlin. Wir haben darüber gesprochen, dass wir noch nie in einer derart extremen Koexistenz wie jetzt gelebt haben. Auf der einen Seite gibt’s irgendwelche ganz verrückten neuen Technologien, auf der anderen existiert beinahe eine Art Sehnsucht nach der Romantik. In diesem Spannungsfeld leben wir.

STANDARD: Was bedeutet das für Ihr Leben?

Gielgen: Nun, ich kann hier total entspannt und zurückgezogen auf meinem Hof leben und schon nächste Woche nach Taipeh oder Seoul reisen und in Unternehmen eintauchen, die mich total aussaugen. So etwas war früher undenkbar. Man muss heute lernen, in verschiedenen Geschwindigkeiten zu leben.

STANDARD: Viele Menschen fürchten sich vor Veränderungen, lechzen aber gleichzeitig nach Trends.

Gielgen: Tief in uns drinnen sind wir immer noch Jäger und Sammler, doch die moderne Welt hat uns degeneriert. Nach meiner Auslegung kommt dieser Durst nach Neuem, dieser Trieb aus der Kraft des Jägers und Sammlers.

STANDARD: Aber warum müssen Trends vorgegeben werden? Man könnte doch selber draufkommen, wonach einem der Sinn steht. Bleiben wir bei Mode und Design. Mangelt es Menschen in Geschmacksfragen an Mündigkeit?

Gielgen: Ich glaube, diese klassischen Trends werden sich auflösen. Früher gab es die großen Gurus ihrer Zeit. Die sehe ich, wenn überhaupt, nur noch im Bereich der Haute Couture. Im Möbeldesign sterben sie aus.

STANDARD: Warum?

Gielgen: Durch Instagram, Tiktok, durch Youtube und die Dezentralisierung der Welt ist alles so vielschichtig geworden. Egal, ob es sich um Musik oder sonst etwas handelt. Schauen Sie sich doch nur mal das Angebot und den Kult um Sneaker an. Klar gibt es noch so eine Art Denk-Elite, die sich auf der Kunstmesse Art Basel oder sonst wo trifft und Trends für starke Consumer-Marken prägt, aber der Rest läuft zu einer Art Subkultur zusammen.

STANDARD: Was bedeutet das für die Kreativen?

Gielgen: Dass vor allem junge Kreative plötzlich eine Sichtbarkeit bekommen, die früher undenkbar gewesen wäre.

STANDARD: Trends könnten auch als Widerspruch zur Nachhaltigkeit gesehen werden. Müssen jedes Jahr neue Sessel auf den Möbelmessen präsentiert werden?

Gielgen: Rolf Fehlbaum, der "Chairman Emeritus" von Vitra, meinte einmal, jeder neue Stuhl muss es mit denen aufnehmen, die es da draußen schon gibt. Nehmen Sie die Firma Patagonia her. Die fahren mit Trucks in den USA durch die Skigebiete und reparieren Menschen ihre Skianzüge vor Ort, egal ob die von Patagonia, Mammut oder Spyder waren. Ich glaube, diese Zirkularität wird Schule machen.

STANDARD: Nehmen wir einen konkreten Trend her. Die Firma Pantone zum Beispiel bestimmt jedes Jahr eine Trendfarbe, und jedes Medium glaubt, darüber berichten zu müssen.

Gielgen: Die Leute von Pantone haben ein gutes Gefühl dafür, Ausprägungen von Öko systemen, Materialitäten und Farben zwar nicht vorauszusagen, aber doch Richtungen vorzugeben und damit auch Anleitung und Orientierung zu schaffen.

STANDARD: Die Pantone-Trendfarbe hat für Sie also durchaus Berechtigung?

Gielgen: Absolut. Ich habe sogar zwei Tassen von denen bei mir stehen. Am beeindruckendsten waren deren Trendfarben in der Pandemie. Da hatten die ein Grau und ein Gelb auf einer der Tassen. Das Grau stand für die Einsamkeit und Traurigkeit der Menschen, das Gelb für Hoffnung und Aufbruch. Das war doch eine Botschaft. Kein Mensch streicht deswegen sein Haus Grau und Gelb. Aber ich finde, die haben es drauf.

STANDARD: Was ist denn der absurdeste Trend, der Ihnen gerade in den Kopf kommt?

Gielgen: Ich verstehe es nicht, wenn Menschen bei Dingen wie Nicht-Trink-Jänner oder Nicht-Rasier-August mitmachen. Gut an Trends ist, wenn sie Orientierung aufzeigen und Strömungen vorgeben. Genauso wichtig ist es aber, dass sich die Leute dadurch spüren, dass sie verstehen und ihren Platz finden.

STANDARD: Es sieht aber doch so aus, als würden sie sich immer schwerer damit tun.

Gielgen: Na logisch. Die Ablenkungen, mit denen wir leben müssen, sind ja nahezu unendlich. Als ich jung war, gab es gerade mal das Internet. Aber man konnte damit immer nur ein Ding machen. Die Jungen heute machen so viel gleichzeitig, und die Auswahl ist einfach zu groß. Sie hatten auch nie Zeit, da hineinzuwachsen. Bei ihnen war ja alles schon da.

STANDARD: Die Trendforscherin Marian Salzman thematisiert unter anderem einen Realitätsverlust aufgrund immer mehr neuer Technologien. Sie stimmen ihr also zu?

Gielgen: Puuh. Das ist eine mutige Aussage. Ich bin kein Ideologe und stelle mir die Frage: Was befähigt uns überhaupt, diese eingangs erwähnte neue Welt zu betreten? Es geht um Werkzeuge. Auch die neue Welt besteht aus dem Streben nach Wohlstand und Fortschritt. So war es immer. Wir haben heute ein gestörtes Verhältnis zur Technologie.

STANDARD: Inwiefern?

Gielgen: Ich habe eine Ausbildung zum Tischler absolviert. Mein Chef brachte jeden Freitag neue Werkzeuge und Maschinen mit und legte sie uns auf die Hobelbank. Wir hatten die Aufgabe, zu entscheiden, welche Werkzeuge für unsere Arbeit eine echte Verbesserung sind, und die wurden gekauft. Das haben die Menschen verlernt. Wir konsumieren Technologie, haben aber keine Ahnung, wie eine Blockchain, Bilderkennung etc. funktioniert. Wir delegieren an die IT-Abteilung, und die soll entscheiden, was wir in der Firma brauchen. Wenn wir wüssten, wie die Technologien funktionieren, dann wüssten wir auch, welchen Wert diese für unsere heutige und zukünftige Arbeit haben, und könnten selber entscheiden, in welche Technologien investiert werden soll.

STANDARD: Es heißt, Wohlbefinden im Arbeitsumfeld sei der Schlüssel für Kreativität und Unternehmenserfolg. Empfinden die meisten Arbeitnehmer nicht eher Druck denn Wohl befinden?

Gielgen: Natürlich existiert großer und mannigfaltiger Druck. Darunter leidet darunter die Erneuerung. Ich bin aber kein Anhänger der Erneuerung um der Erneuerung willen. Wenn man die Reports der großen Thinktanks liest, sagen die alle eines: Mit der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts betreten wir eine Dekade der Erneuerung, in der wir mit Produkten der Service-Bereiche Geld verdienen müssen, die noch nicht existieren. Wir sind also dazu verdammt, uns neu erfinden zu müssen. Wir brauchen neue Geschäftsmodelle. Und das erfordert Kreativität.

STANDARD: Anders gefragt: Wie vertragen sich Autorität und Kreativität?

Gielgen: Kurz gesagt geht es um ein gewisses Laissez-faire. Wenn die Chefs permanent durchs Schlüsselloch schauen, um zu sehen, was man tut, ist das ein Holzweg.

STANDARD: Vitra ist bekannt für Möbel. Sie sind Trendscout. Wie viel Gielgen steckt in einem neuen Möbel von Vitra?

Gielgen: Die Entwicklung von Produkten ist nicht mein Mandat. Unsere Designer sind wie Autoren, sie sind vollkommen frei in ihrer Arbeit und ihren Konzepten und Entwürfen. Der Beitrag meiner Arbeit wirkt anders, er weckt Neugierde, inspiriert und informiert, öffnet die Türe in den Möglichkeitsraum der Zukunft und hält uns wach und aufmerksam.

STANDARD: Zum Abschluss: Welchen Trend sagen Sie Trends voraus?

Gielgen: Mir fällt dazu der Schriftsteller Raoul Schrott ein. Der schreibt sinngemäß, dass schon einst die Gelehrten gewusst haben, dass das Neue keine Domäne der Trendsetter und Trampel ist, sondern dass das Neue nur einem langen Gedächtnis entspringen kann. (Michael Hausenblas, 5.3.2023)

Weiters befragten wir einen Spitzenkoch, eine Modedesignerin, einen Produktdesigner und eine Museumsdirektorin, wie sie in die Zukunft blicken.


Kulinarik

Konstantin Filippou darf sich mit zwei Michelin-Sternen schmücken und betreibt in Wien die Restaurants Konstantin Filippou und O Boufés.
Foto: Vitra; Wolfgang Pohn; Gaby Gerster; Gerhard Wasserbauer; Katharina Gossow

Konstantin Filippou, Sternekoch

"Ich könnte jetzt sagen, dass vegetarisch und vegan weiter trendet. Es stimmt aber nicht, denn das war immer da. Sogar sehr tief verwurzelt, zum Beispiel auch in der griechischen Küche, die eine sehr breite vegetarische Basis hat. Unsere Gäste fragen verstärkt danach nach und nehmen dieses Angebot sehr gut an."

Mode

Susanne Bisovsky kreiert internationale Mode. Ihre Kollaborationen reichen von den Salzburger Festspielen und dem Teatro alla Scala bis hin zu externen Designaufträgen.
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Susanne Bisovsky, Modedesignerin

"Mode wird sich wieder mehr in Richtung Kleidung entwickeln. Ich spreche von Gewand von und für Menschen. Und nicht von Mode als entfremdetem Konstrukt. Das wird auch mehr Fachkräfte und Könnerschaft vor Ort erfordern."

Design

Sebastian Herkner arbeitet für namhafte Häuser wie Rosenthal, Thonet oder Wittmann und gewann zahlreiche internationale Preise.
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Sebastian Herkner, Designer

"Die Kundschaft möchte heute viel mehr über das Design und seine Entstehung wissen und ist bereit, dafür auch mehr zu investieren. Betreffend der Entwicklung von Produkten werden verstärkt Fragen zum Produktionsort und der Materialherkunft gestellt. Aber auch danach, ob und wie man das Produkt reparieren und umweltschonend recyceln kann."

Kultur

Lilli Hollein ist Kuratorin, Kulturmanagerin und Mitbegründerin der Vienna Design Week. Seit 2021 ist sie Direktorin des Wiener Museums für angewandte Kunst.
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Lilli Hollein, Museumsdirektorin

"Museen und Kulturinstitutionen arbeiten mehr denn je daran, einem breiten und diversen Publikum Offenheit und Willkommenheit zu signalisieren. Auch im Bereich der Sammlungen und Ausstellungen spiegelt sich das wider, durch das Bewusstsein für erforderliche neue Perspektiven auf die Provenienz und das Einnehmen anderer Blickwinkel, bei der Erzählung. Das sind keine neuen, aber beständige Strömungen, die gerade in vollem Gange sind." (Michael Hausenblas, RONDO, 5.3.2023)