Die Bilder gingen um die Welt: In der Nacht auf den 18. März 2020 verließ ein langer Konvoi von Militärlastwagen mit über 60 Särgen die norditalienische Stadt Bergamo. Das Krematorium der Gemeinde war überlastet, auf den Friedhöfen gab es keinen Platz mehr für die vielen Covid-Toten.

März 2020: Zu Tausenden wurden die Covid-Toten von Bergamo in andere Provinzen gebracht, weil die Friedhöfe überfüllt waren.
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In den folgenden Tagen gab es immer wieder solche Konvois, die Särge in andere Provinzen transportierten. Täglich starben in Bergamo dutzende, später hunderte Menschen am Coronavirus. Später stellte sich heraus, dass die Übersterblichkeit in der Provinz Bergamo allein im Februar und März 2020, den ersten beiden Monaten der Pandemie, bei 6.200 Toten lag. Die Zustände in der norditalienischen Stadt mit ihren 120.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (zum Vergleich: Innsbruck 130.000) sind auch als "Apokalypse von Bergamo" bezeichnet worden.

Vermeidbare Sterbefälle?

Mehr als 4.000 dieser Toten hätten vermieden werden können, wenn die Behörden nur rechtzeitig eine "rote Zone" für die Provinz eingeführt hätten: Zu diesem Schluss kommt nun der Staatsanwalt von Bergamo, Antonio Chiappani, der nicht zuletzt aufgrund von Klagen Angehöriger Ermittlungen aufgenommen hatte.

Chiappani wirft dem damaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte, dessen Gesundheitsminister Roberto Speranza, dem lombardischen Regionalpräsidenten Attilio Fontana sowie einem Dutzend weiterer Politiker und Experten Fehleinschätzungen bezüglich der Gefährlichkeit des Virus sowie Versäumnisse bei der Bekämpfung von dessen Ausbreitung vor.

Für die Beschuldigten beantragt der Staatsanwalt einen Prozess wegen schuldhafter Begünstigung einer Pandemie, mehrfacher fahrlässiger Tötung und unterlassener Amtshandlungen.

Fehlende Erfahrungswerte?

Tatsächlich hatte die Regierung von Giuseppe Conte – heute Chef der linken Fünf-Sterne-Protestbewegung – trotz besorgniserregender Fallzahlen in Bergamo zunächst nur wenige Quarantänemaßnahmen verhängt. Ganz im Unterschied zum Gebiet rund um Lodi, wo bereits am 23. Februar, nur zwei Tage nach dem ersten offiziellen Corona-Todesfall in Italien (und damit auch in Europa), elf Gemeinden komplett von der Umwelt abgeriegelt wurden.

Zur "roten Zone" wurde Bergamo erst am 8. März 2020 erklärt, zusammen mit der ganzen Region Lombardei und weiteren 14 Provinzen Norditaliens. Drei Tage später schickte Conte dann auch noch den Rest des Landes in den Lockdown: 60 Millionen Italienerinnen und Italienern war ab dem 11. März praktisch alles verboten, sogar das Spazierengehen. Geöffnet blieben nur Lebensmittelläden, Apotheken, Tabakwaren- und Zeitungsstände.

Ministertribunal

Conte und Speranza werden sich voraussichtlich vor einem Ministertribunal verantworten müssen. Der Ex-Premier erklärte, dass er den Prozess nicht fürchte, weil er gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ein ruhiges Gewissen habe. "Wir alle haben in einem der härtesten Momente, die unsere Republik je erlebt hat, mit größtem Einsatz und mit Verantwortungsbewusstsein gehandelt", ließ Conte verlauten. Ähnlich äußerte sich Ex-Gesundheitsminister Speranza, der auf die große Unsicherheit von damals verwies.

Angehörige von Covid-Toten in Bergamo begrüßten die Anklage: "Der Prozess bringt uns zwar unsere Lieben nicht zurück, aber er verschafft denen Gerechtigkeit, die wegen der Fehler anderer gestorben sind."

Allerdings steht die Frage im Raum, ob das Agieren von Conte und den übrigen Beschuldigten überhaupt "justiziabel" ist. Die Regierung war im Februar 2020 mit der größten gesundheitlichen Bedrohung seit der Spanischen Grippe vor über hundert Jahren konfrontiert. Die Krise traf die Behörden weitgehend unvorbereitet – auch weil aus China, wo das Virus zuerst aufgetreten war, nur verspätete, unzureichende und falsche Informationen kamen.

Opportunistische Kehrtwende

Und man darf nicht vergessen: Im Vergleich zu späteren Phasen der Pandemie lag die Zahl der entdeckten Infektionsfälle im Februar und März 2020 noch auf einem äußerst tiefen Niveau. Als Conte am 23. Februar die 50.000-Einwohner-Stadt Lodi und elf weitere Kleinstädte abriegelte, zählte man in ganz Italien gerade einmal 130 positiv Getestete.

Bei so tiefen Fallzahlen Millionen Menschen mit harten Quarantänemaßnahmen ihrer grundlegenden Freiheitsrechte zu berauben ist eine heikle Aufgabe – und gerade in Bergamo, einem der produktivsten Industriedistrikte Italiens, war der Widerstand der Wirtschaft und auch des Bürgermeisters gegen die Verhängung von Restriktionen durch die Regierung zunächst groß gewesen.

Auch die postfaschistischen Fratelli d'Italia und die rechtsradikale Lega – damals in der Opposition und heute die beiden größten Regierungsparteien in Rom – hatten die "Freiheitsberaubungen" durch Conte immer wieder scharf kritisiert. Am Donnerstag erfolgte die opportunistische Kehrtwende: Die Rechtsparteien forderten die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zur Abklärung möglicher Versäumnisse der damaligen Regierung. (Dominik Straub, 3.3.2023)