Haşim (li.) und Harun Çelik im Gespräch vor den Trümmern des Wohngebäudes, in dem Haşims Familie umgekommen ist. Er beklagt, dass die Hilfe zu spät kam.

Foto: Der Standard / Harun Celik

Sehr geehrte Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän. Leider können wir noch nicht landen, weil unter uns aktuell ein Erdbeben stattfindet. Sobald sich die Lage bessert und die Landebahn auf Schäden kontrolliert wurde, bekommen wir eine Landeerlaubnis." Auf Sitz 22C beginnt jemand zu weinen, im Flugzeug breitet sich Panik aus. Es ist kurz vor 22 Uhr am 20. Februar, die Boeing 737 der Turkish Airlines kreist 20 Minuten über der südanatolischen Großstadt Gaziantep. Zwei verheerende Erdbeben haben sich am 6. Februar in der türkisch-syrischen Grenzregion ereignet. Die meisten Passagiere sind Helfer oder Verwandte von Opfern. Beim Aussteigen spüren wir das leichte Nachbeben. Der Flughafen Gaziantep ist voll. Die Bewohner von Gaziantep wollen weg aus der Stadt, Turkish Airlines und Pegasus bieten Gratisflüge an.

DER STANDARD

Vor dem Apartmenthaus, in dem wir uns eingemietet haben, sind einige Menschen unterwegs, sie suchen Brennholz. Die Nacht wollen sie draußen verbringen. Çay wird herumgereicht. Überall im Stadtteil sitzen Menschen auf der Straße und versuchen, sich aufzuwärmen. Niemand traut sich, sein Wohnhaus zu betreten. Viele Gebäude sind seit dem 6. Februar ohnehin nicht mehr bewohnbar. Irgendwann in den späten Nachtstunden begeben sich dann doch viele in die Unterkunft, es ist zu kalt. Schlafen ist schwierig. Der Blick ist immer wieder an der Deckenleuchte. Schwingt sie? Sie sind in ständiger Angst vor dem nächsten Beben, sagen die Bewohner.

Als der Muezzin seine Stimme zum Morgengebet erhebt, fällt auf, dass viele die Nacht in Autos verbracht haben. Überall öffnen sich Autotüren, und Kleinkinder, Eltern, Großeltern steigen aus und strecken sich. Andere haben in provisorischen Zelten übernachtet.

"Wir geben nicht auf"

Im Stadtteil Polatlı steht Haşim auf den Trümmern eines Hochhauses. Er hat ein Foto einer Schulklasse in der Hand. Vor ihm auf dem Boden ein blaues Plüschtier. Haşim hat hier seinen Bruder, dessen Frau und seinen Neffen verloren. Die lokalen Medien berichten, dass wenige Tage nach dem ersten Erdbeben der Bauunternehmer und der verantwortliche Bauingenieur verhaftet wurden.

Haşim erzählt von der Zeit direkt nach dem 6. Februar: "Acht Tage wurde uns nicht geholfen. Am achten Tag haben wir die Leichen geborgen. Niemand aus diesem Gebäude hat überlebt." Der Kurde gibt sich kämpferisch: "Wir Überlebenden werden nicht aufgeben, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sind! Auch die, die die Baumeister kontrollieren sollten, müssen bestraft werden!"

Auf sich selbst gestellt

Rund siebzig Kilometer westlich von Gaziantep liegt Nurdağı. Vor dem Erdbeben haben hier fast 41.000 Menschen gelebt. Die Rettungsaktionen sind längst beendet, nach Überlebenden wird nicht mehr gesucht. Auch nicht nach Todesopfern, die noch unter den Trümmern liegen könnten. Was noch steht, wird mit großen Baggern gestürzt. Zwischen den Trümmern sitzen noch Überlebende. Kleidung und Spielzeug liegt herum, daneben auch eine glänzende Wanduhr. Sie ist um 4.17 Uhr, dem Zeitpunkt des ersten Erdbebens, stehengeblieben.

Hamza treffen wir in einem Zelt der staatlichen Katastrophenhilfe Afad, er kocht Tee. Lebensmittel bekommen die Campierenden von NGOs, vom Staat fühlen sie sich alleingelassen. Sein Grundstück möchte Hamza eigentlich nicht verlassen. Sein altes Wohnhaus gehört zu denen, die als erdbebensicher galten. Hamza glaubt, dass sie Teil der Bauamnestie waren. Zahlreiche widerrechtlich errichtete Gebäude wurden damit rückwirkend als sicher eingestuft.

Viel mehr Opfer

Eine Autostunde weiter, außerhalb der benachbarten Kleinstadt Osmaniye, steht ein Containercamp. Es ist schwer bewacht und wirkt wie eine kleine Stadt für sich. Hier leben seit 2016 syrische Flüchtlinge.

Fatma ist seit dem Beben hier, in ihre Wohnung in Osmaniye darf sie nicht mehr. Trotzdem war sie heute schon dort, um Wäsche zu waschen. "Ich bin dankbar, hier sein zu können, aber man lässt uns auch spüren, dass wir in einem Camp für Syrer sind." Zum Abschied führt uns Fatma zu einer Obstkühlhalle, in der anfangs die Leichen gestapelt wurden. In ihren Augen hat die staatliche Katastrophenhilfe versagt. An die bestätigte Zahl der Todesopfer glaubt sie nicht. Allein in der stark betroffenen Gegend von Osmaniye gehe "die Rechnung nicht auf". (Harun Çelik aus Gaziantep und Umgebung, 3.3.2023)