Gemeinsam gegen die Widrigkeiten der Zeit: Verena Dürr.

Foto: Lisa Truttmann

Altersarmut, eine Trias: das Alter, die Armut und die Altersarmut – mehr als die Summe ihrer Teile. Das Alter verschärft den Zustand der Armut, die Armut den Zustand des Alters. Altersarmut wird anhand von Parametern wie Geldmangel und sozialer Deprivation gemessen, und sie betrifft zu zwei Drittel Frauen: Teilzeitfalle, unbezahlte Fürsorgearbeit, unterbrochene Erwerbskarrieren, Gender-Pay-Gap.

In der Not frisst der Teufel Fliegen. Auf Englisch: Beggars can’t be choosers.

Der österreichische Sozialstaat gleicht Armut einigermaßen aus. Es geht uns, global gesehen, ziemlich gut. Dennoch sind im zehntreichsten Land Europas die Suppenküchen und Essensausgabestellen so stark besucht, dass, wie kürzlich von der Caritas zu hören war, die Rationen verknappt werden, um mehr Menschen zu versorgen. Anteil zu nehmen an der Wahlfreiheit, die uns der Kapitalismus verspricht, ermöglicht ein Leben in Würde, so der Tenor. Insofern sind Sozialmärkte eine gute Sache. Doch macht es wirklich einen Unterschied, sich zwischen Produkten am Rande des Haltbarkeitsdatums gegen geringes Entgelt entscheiden zu können oder auf Spenden angewiesen zu sein? Das fragte ich mich als Betreuerin im Notquartier, wo ein Besuch der Tafel, besonders nach Feiertagen, zu kurzfristigem Weihnachts- und Osterschokoladenüberfluss führt.

ausgesorgt / outgesourct

Es sind nur wenige von uns, die bis an ihr Lebensende ausgesorgt haben, die sich um ihre Zukunft nicht sorgen müssen. Und sich auch nicht um andere zu sorgen brauchen, denn das übernehmen Pflegekräfte aus Osteuropa. Und wenn diese aufgrund von Pandemien verhindert sind, rekrutiert man junge Menschen von den Philippinen via Headhunting für Österreichs Pflege, wie es ein Plan der WKO im Jahr 2021 vorsah. Mit solchen Strategien wird das heikle Terrain der Vermögensumverteilung im eigenen Land umgangen. Wirtschaftlich in die Ferne zu schweifen, konterkariert und manipuliert, was nahe liegt. Wenn eine Regierungspartei aus Mitgliedern besteht, die nach ihrem Amt auf Führungs- und Beratungsposten in Großunternehmen hoffen, ist das Verständnis für die zukünftigen Arbeitgeber:innen natürlich größer als für die Anliegen einer Bevölkerung, die mit Existenzsicherung beschäftigt ist. Das riskante und spekulative Geschäftsverhalten libertärer Multimillionäre (sic!) wird von Befürworter:innen einer "entfesselten" Marktwirtschaft bewundert, während an anderer Stelle vor den unabsehbaren Auswirkungen vermögensbezogener Steuern oder des bedingungslosen Grundeinkommens gewarnt wird. Lieber im Notfall hohe Summen aufwenden als für langfristige Maßnahmen, die dem Notfall vorbeugen.

Notfall: Notquartier

"Kannst von der Kunst nicht leben, such dir halt eine richtige Arbeit!", sagte ich mir vor einigen Jahren mangels Geld und bewarb mich als Betreuerin in einem Wiener Winternotquartier. Das Notquartier ist die hauchdünne Membran, die Menschen von einer Nacht auf der Straße trennt. Personen ab 65 machen dort mit 6,7 Prozent nur einen geringen Anteil aus. Pflegebedürftige Klient:innen sind eher die Ausnahme, dann aber angewiesen auf verwaiste Krücken oder eine Rollstuhlspende. Die Betreuerin hilft beim Anziehen oder beim Waschen. Doch Betreuer:innen sind keine Pflegekräfte. "Die Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen." (Max Frisch) Mit diesem vielbemühten, mittlerweile zum zweckoptimistischen Sinnspruch "Die Krise ist eine Chance" umgedeuteten Zitat versuchen Entscheidungsträger:innen in Politik und Wirtschaft die eigentliche Krise herunterzuspielen: dass nämlich ständig Chancen vergeben werden, um strukturelle Veränderungen herbeizuführen. "Immerhin haben sie heute einen Schlafplatz." – Ein wenig hilfreicher Satz, den ich viele Male zu verzweifelten Klient:innen gesagt habe, bis mir klar wurde, dass der Katastrophe ihren Schrecken nehmen zu wollen nur ein Abgrenzungsimpuls derer ist, die nicht davon betroffen sind. Manchmal ist das Einzige, das hilft, die Krise zu überwinden, vor die Tür zu gehen, gemeinsam eine Notfallzigarette zu rauchen und den krisenhaften Ist-Zustand anzuerkennen.

Forever Young

Wir werden erst seit circa 60 Jahren mehrheitlich so alt, wie wir es heute gewohnt sind. Ein Phänomen, das nicht zufällig mit dem Ausbau des Sozialstaats nach dem Zweiten Weltkrieg einhergeht. Anfang des 19. Jahrhunderts starben die Menschen in Österreich durchschnittlich mit 40–45 Jahren: Infektionskrankheiten, Arbeitsunfälle, Geburten (Frauen und Kinder). Heute unterscheidet die Gerontologie zwischen jungen Alten (60–85) und alten Alten (85 plus). Transhumanist:innen versprechen uns mittlerweile das ewige Leben durch technischen Fortschritt – eine baldige Heilung für die Krise: das Alter. Das Wort "Alter" hat seinen etymologischen Ursprung in "nähren, wachsen". Unser Körper nährt den Boden der Tatsachen. Es gibt kein unendliches Wachstum für uns, denn wir werden alle sterben. Zu verhindern, dass Menschen dem Tod auf der Straße oder im Mehrbettzimmer in einem Notquartier begegnen müssen – das wäre ein echter Beitrag zu einem Leben in Würde.

"Old People"

Businesskonzepte versuchen der sinkenden Kauflust im Alter entgegenzuwirken und beschwören die "silberne Revolution" herauf, um eine konsumfreudige Zielgruppe "50 plus" zu "targeten", die auf Qualität, Wellness und Slow Food bis an ihr Lebensende setzt. Die wachsende Mehrheit, die jeden Cent dreimal umdreht, ist nicht gemeint. Im deutschen Horrorfilm Old People sind es die im örtlichen Altersheim Verwahrlosten, die ausziehen, um sich an jüngeren Generationen zu rächen. Das Horrorgenre ist Ausdruck gesellschaftlicher Ängste. Kranke, Arme und Geflüchtete werden zu den unheimlichen Anderen, die unsere Heile-Welt-Momente (im Film ist es eine Hochzeit) crashen. Menschen in Altersarmut sind die Horrorvorstellung jener großen Wirtschaftsakteure, die es dem Staat überlassen, die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken, während sie uns mittels kreativer Buchführung das Kapital für den sozialen Rückhalt entziehen.

"In der Pension will ich im Chor singen." (eine Freundin)

Der Wert meiner Pension beträgt aktuell 177 Euro. Mit Neuromarketing-Strategien für "Best Ager" wird man mich nicht ködern können. Im Mangel, der jetzt in breiten Teilen der Gesellschaft spürbar ist, liegt tatsächlich die Chance, eigene Bedürfnisse zu überdenken. Ich habe nichts zu veranlagen, doch ich habe meine Freund:innen, und wir planen schon die Alters-WG. Den Widrigkeiten der Zeit gemeinsam zu begegnen und alternative Lebensmodelle für sich zu erkunden macht einen funktionierenden Sozialstaat, der sowohl im Notfall greift als auch präventiv für Verteilungsgerechtigkeit sorgt, nicht obsolet. Hat man aber eine Zukunftsvision für sich selbst, kann man von sich selbst auch absehen, kann sich umschauen und auf andere schauen. Auch das ist Altersvorsorge. Das, und die Arbeitskämpfe im Sozialbereich zu unterstützen. Hingehen, wenn unsere Pflegekräfte zur Demonstration aufrufen. (Verena Dürr, 4.3.2023)