Während des Krieges boten regelmäßigen Theaterbesuche Schutz und Trost für "die Mutter".

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Wir kommen aus ihr und tragen sie zeit unseres Lebens im Herzen. Richtig: Die Rede ist von der Mutter, der Wolfgang Hermann ein ganzes Buch widmet. Bildnis meiner Mutter lautet der Titel seiner neuen Erzählung, in der der gebürtige Vorarlberger einmal mehr beweist, dass er nicht nur als Lyriker mit Sprache umzugehen weiß, sondern auch ein begnadeter Prosaschreiber ist.

Lebendige Schilderungen

Bildnis meiner Mutter besteht aus zwei in mehrere Kapitel gegliederten Textteilen. Das Besondere am ersten Part: Die Mutter des Protagonisten lebt noch. Er ist also kein Epitaph, keine Darstellung eines im Tod erstarrten, eingefrorenen Bildes der verstorbenen Mutter, sondern die Schilderung von etwas Lebendigem, das sich in einem Prozess befindet. Die Anfangskapitel sind einfach gegliedert, hangeln sich an Jahreszahlen entlang und machen uns mit "der Mutter" vertraut.

Alles beginnt an einem Weihnachtsabend: Die dreijährige Hauptfigur wird halb erfroren im Schnee aufgefunden – und überlebt. Wir erfahren mehr: dass das gerettete Mädchen als junge Frau die HAK besucht beispielsweise, und dass es gern Gedichte aufsagt. Zum Arbeitsdienst meldet es sich freiwillig und arbeitet einen Sommer lang bei einer Bergbauernfamilie. Doch auch Sehnsüchte bleiben nicht aus. Die Bühne wird bald schon zum Wunschtraum der jungen Frau. Sie trällert Arien, liebt Gräfin Mariza und endet dann doch wie die meisten ihrer Generation als Mutter.

Wolfgang Hermann, "Bildnis meiner Mutter. Erzählung". € 20,– / 120 Seiten. Czernin-Verlag, Wien 2023.
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Die Kunst als Zuflucht

Inspirierend sind für "die Mutter" jedoch weiterhin ihre regelmäßigen Theaterbesuche, in einer von Krieg geprägten Zeit bietet Kunst Schutz und Trost. So findet "die Mutter" Zuflucht in einer magischen Welt jenseits des Alltags: Sie "mietete ein Klavier, nahm Gesangs- und Schauspielunterricht und entdeckte ihren Heißhunger auf alles Schöne und Edle". Eindrucksvoll sind die Landschaftsschilderungen, man schmeckt die Farben, hört Platanen rauschen. Der Text ist sinnlich, ohne überbordend zu sein, die Betrachtungen bleiben hinter einer Glaswand und sind dennoch nicht kalt, sondern liebevoll und leuchtend.

Diesem ersten Buchteil stellt Wolfgang Hermann ein "Nachher" gegenüber, einen zweiten Abschnitt, in dem sich der erste widerspiegelt. Der Tod der Mutter, die Zäsur, die stattgefunden hat, stellt eine Leerstelle dar. Was bleibt außer Bilder, wenn ein Mensch nicht mehr unter uns ist? Diese Frage bearbeitet Wolfgang Hermann in seiner Erzählung. Und er kommt zu der Erkenntnis: "Als Kind glaubt man, das Leben seiner Mutter zu kennen, oder man glaubt, es zu ahnen. Später begreift man, dass man von einem geheimnisvollen Menschen großgezogen wurde, dessen Persönlichkeit sich in unzählige Facetten auffächert." (Sophie Reyer, 6.3.2023)