Im Gastblog analysiert Nenad Stefanov, wie sich das Verhältnis von Serbien zu Russland über Jahrzehnte hinweg gewandelt hat.

Putin auf Tagesbesuch in Belgrad, am 17. Jänner 2019. Begeisterte Menschen am Straßenrand. Ein leutselig winkender Vladimir Vladimirovič steuert auf die Kathedrale des Heiligen Sava zu – deren Bau Ende der 1980er begann, unter wohlwollendster Förderung seitens des seinerzeitigen Chefs des Bundes der Kommunisten, Slobodan Milošević. Bis auf ein "hvala, hvala na prijateljstvu" (serbisch: danke, danke für die Freundschaft) ist dies dann auch alles an Kommunikation. Keine Ansprache, keine Rede. Solches schien es für die angeblich 120.000 Menschen auf dem Platz vor Kathedrale und Nationalbibliothek gar nicht zu brauchen. Es hatte den Anschein, hier herrsche vollkommener Einklang zwischen dem Besucher aus Russland und dem serbischen Volk. Die TV-Bilder taten ihr Übriges und vermittelten glückliche Menschen, die in kostenlos zur Verfügung gestellten Bussen aus ganz Serbien nach Belgrad gekommen waren.

Angesichts solcher Bilder erscheint es nicht besonders überraschend, dass in der serbischen Politik und Öffentlichkeit nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine auch mit Verständnis und teilweise gar Sympathie reagiert wurde.

In Serbien wurde der Angriff Russlands durchaus auch unterstützt, wie etwa bei dieser Demonstration in Belgrad am 4. März des vergangenen Jahres.
Foto: IMAGO/Alexandar Djorovich/SNA

Solches Verständnis ist sicherlich kein serbisches Alleinstellungsmerkmal, denn in vielen europäischen Gesellschaften artikulierte sich – nach den ersten Momenten des Schocks – eine solche Haltung – sowohl in Parlamenten als auch in der Öffentlichkeit – zumeist getragen von ethnonational-populistischen Parteien. Allerdings dominierten solche Reaktionen nicht.

Die bulgarische Gesellschaft zum Beispiel ist von einem ambivalenten Verhältnis zur Sowjetunion und Russland geprägt, das sich in der Wendung vom "Filstvo-Fobstvo (Philie-Phobie)" manifestiert: Der Ausdruck spielt auf die wechselnde Anlehnung an Großmächte wie Deutschland (Germanofilstvo) oder Russland (Rusofilstvo) an, die jeweils immer auch umstritten war (-fobstvo).

Serbiens Nähe zu Russland

Im Unterschied zu Bulgarien und vielen anderen Staaten scheint im heutigen Serbien die Beziehung zu Russland nicht von Ambivalenz charakterisiert zu sein. Im Gegenteil: Scheinbar gibt es sehr viel "Filstvo", und ganz wenig "Fobstvo" – zumindest in der Öffentlichkeit. Das scheint für viele von uns auch nicht überraschend, denn reflexhaft werden dann die Stichworte "slawische Bruderschaft" und "orthodoxer Glaube" genannt. Doch Gleiches könnte genauso für Bulgarien gelten. Wie angedeutet, war dieses viel stärker verflochten mit Russland und Sowjetunion als die serbische/jugoslawische Gesellschaft. Und darin liegt das Besondere in Serbien im Vergleich zumindest zu den ehemaligen Staaten im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und ganz besonders Bulgarien: Da Jugoslawien nicht im RGW war, gab es nahezu ein halbes Jahrhundert lang keine derart intensiven Bindungen an die Sowjetunion/Russland. Und vielleicht ist solche Erfahrungslosigkeit der Grund für so viel "Filstvo".

So scheint diese "Erklärung" der derzeitigen Begeisterung und Identifikation mit Russland, die auf uralte Tradition abzielt, selbst erklärungsbedürftig. Zudem ist diese Identifikation, in historischer Dimension gedacht, ein recht neues Phänomen, das im Verlauf der 1990er-Jahre in Erscheinung trat, während der Kriege um ethnisch homogene Territorien in Jugoslawien. Im Unterschied etwa zu Bulgarien, der vorgeblichen "16. Sowjetrepublik", hatte Jugoslawien seit 1948 (Titos "Nein" zur Hegemonie Stalins) alle wesentlichen gesellschaftlichen Verbindungen zur Sowjetunion gekappt.

Verändertes Verständnis von Gesellschaft

In den 1990er-Jahren waren es dann nicht etwa mögliche neue, wachsende Verflechtungen, die einen Impuls zur "Wiederentdeckung" Russlands gaben. Dieser Wiederentdeckung lag eine neue Wahrnehmungsform von Krisen und Konflikten zugrunde, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zu entwickeln begann. Diese neue Wahrnehmungsform war eng verbunden mit der politischen und wirtschaftlichen Krise Jugoslawiens in den 1980er-Jahren und dem Aufstieg eines neuen ethno-nationalistischen Populismus, der letztlich im Aufstieg Slobodan Miloševićs resultierte.

Für jene Intellektuellen, die diese neue Form der Sinnstiftung und Deutung der Gegenwart artikulierten, war ein verändertes Verständnis von Gesellschaft und Geschichte zentral. Gesellschaft wurde als ethnisierte homogene Gemeinschaft vorgestellt, die durch die Geschichte hindurch Leiden und Opferung ausgesetzt war. Die unveränderte Dauer dieses Leidens suspendierte Zeitlichkeit und verwandelte sich in die unentwegte Gegenwart des Vergangenen – von 1389 über 1914 bis 1941. Auch die Veränderungen von 1989 in Europa und auch in Jugoslawien – hier die Unabhängigkeitsbestrebungen der einzelnen Republiken – wurden vermittels dieser Folie wahrgenommen. Viele Intellektuelle interpretierten das Ende des Realsozialismus nicht als etwas unerhört Neues, sondern als "Erneuerung des Vergangenen".

Neudefinierung von Serbien

Die Selbstwahrnehmung Serbiens als Opfer stand dabei in engster Wechselbeziehung zum postulierten Freiheitssinn "der Serben", wie es besonders anschaulich in den Werken des als "Vater der Nation" bezeichneten berühmten Schriftstellers Dobrica Ćosić zum Ausdruck kam. In seinen Romanen – große historische Panoramen – war es gerade der unbezähmbare Freiheitsdrang des serbischen Volkes, der dieses immer wieder zum Opfer übermächtiger Feinde werden ließ – wie etwa im großen Epos über den Ersten Weltkrieg "Zeit des Todes". So stand Serbien immer auf der Seite des Fortschritts, von Freiheit und Demokratie im Kampf gegen den reaktionären Imperialismus eines Österreich-Ungarn oder des Osmanischen Reiches und schließlich Nazi-Deutschlands.

Manche, wie der Historiker Veselin Djuretić, gingen so weit zu behaupten, Antifaschismus und damit Freiheitswille seien im serbischen Volk dadurch gleichsam genetisch verankert. Es könne niemals einen serbischen Faschismus geben. Übrigens eine Vorwegnahme von Umdeutungen des Begriffs "Antifaschismus", wie er heute in Russland zu beobachten ist.

Das "deutsche Europa"

1989 sahen einige, unter ihnen der einflussreiche Historiker Milorad Ekmečić, das "deutsche Europa" auf dem Vormarsch. Dieses neu erstarkte Deutschland, so schrieb auch Dobrica Ćosić "hasst Serbien mit österreichisch-ungarischen Argumenten". Zudem treibe die Dominanz der katholischen Kirche in Deutschland und Österreich, so Ekmečić, in beiden Ländern die Belebung der alten Mitteleuropa-Konzepte eines Friedrich Naumann voran. Gegen diesen mächtigen Feind stehe Serbien nahezu allein. Widerstand werde gegen das Vordringen von Konservativismus und Xenophobie noch in Frankreich geleistet: "Dort existiert ein klarer Widerstand gegen die katholischen Konzepte der Regionalisierung alter Nationen und der Schaffung von Euroregionen. (...) Die serbische politische Elite muss sich mit den Traditionen Frankreichs und der angelsächsischen Welt identifizieren, wenn sie weiter bestehen will."¹

Die Identifikation von Serbien als "genuin demokratisch" und somit Frankreich und England verbunden geriet aber im Zuge des Krieges in Kroatien und vor allem bei Kriegsbeginn in Bosnien 1992 ins Wanken. Die Irritation bei den serbischen nationalistischen Intellektuellen über die kritischen Reaktionen in der französischen und britischen Öffentlichkeit auf den Krieg wuchs zusehends. Spätestens mit der Verhängung der Sanktionen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der UN im Mai 1992, die ein Handelsembargo beinhalteten, erreichte das Staunen und die Empörung unter diesen nationalistischen Intellektuellen einen Höhepunkt. Staunen über die einhellige Unterstützung der Sanktionen, insbesondere seitens der "alten Verbündeten" Großbritannien, Frankreich und der USA.

Es war dieser Zusammenhang, in dem "Russland" in der serbischen Öffentlichkeit wiederentdeckt, gleichsam neu erfunden wurde.

Neuerfindung in der Isolation

Die zunehmende Isolation, die sich im Embargo manifestierte, zeigte sich auch in Meinungsumfragen. So überschrieb beispielsweise das Wochenmagazin NIN eine Enquete mit der Frage, "Sind wir jetzt wirklich allein?". Dies Isolation führte letztlich dazu, dass nun viele in das krisengeschüttelte Russland blickten.

Doch es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis ein Präsident Serbiens ohne großes Gelächter zu provozieren, sagen konnte "Das, was dem Menschen die Mutter, ist Russland für Serbien" wie es der seinerzeitige Amtsinhaber Tomislav Nikolić tat. Das war 2015.

So wenig es Anfang der 1990er-Jahre um Frankreich und England ging, ging es dann um Russland: Die Hinwendung zu Russland hatte ihren Grund in erster Linie in den eigenen nationalistischen Befindlichkeiten der genannten Intellektuellen. Alles drehte sich um Serbien selbst, nur die die Projektionsflächen veränderten sich. Der Kern dieser Wahrnehmungsform war ein ethnonationalistischer. Dadurch waren die Worte Demokratie und Freiheit nur Attribute eines Volkswesens, also "Äußerlichkeiten" ohne eigenen (universellen) Inhalt.

Erfundene Traditionen

Der Historiker Eric J. Hobsbawm, der sich sehr viel mit Zeiten des Umbruchs beschäftigte, hat einmal für solche Phänomene den Begriff der "Invention of Tradition" geprägt, der "Erfindung von Traditionen". Das bedeutet keineswegs, dass diese erfundenen Traditionen im Gegensatz stehen zu vermeintlich "wahren" (die es nicht gibt) und etwa "künstlich", also wirkungslos wären. Ganz im Gegenteil. Wie wir sehen, haben solche "Inventions" eine enorme Wirkungsmacht. Aber, die "Invention", also die menschengemachte Erfindung – etwa von Traditionen "uralter Freundschaft" – in einer ganz bestimmten historischen Situation, beinhaltet auch die Möglichkeit der Veränderbarkeit oder die Ablösung solcher Erfindungen durch neue.

Diese Möglichkeit von Veränderung steht in einem brisanten Spannungsverhältnis zur drohenden Verfestigung solcher "realen Fiktionen". Derzeit kommen viele Menschen aus Russland nach Serbien, ganz besonders nach Belgrad. Mittlerweile sollen es an die 140.000 Russinnen und Russen sein, die nicht mehr in diesem Russland leben wollen oder können. Es ist dies die erste Begegnung vieler Menschen aus Serbien mit dem real existierenden Russland. Es bleibt abzuwarten, ob diese Begegnungen neue Traditionen stiften. (Nenad Stefanov, 6.3.2023)