Über das, was sich am Donnerstagvormittag in dem russischen Grenzdorf Ljubetschane abgespielt hat, herrschte auch tags darauf noch Rätselraten. Ein Video, gepostet von einem amtsbekannten russischen Rechtsextremisten, zeigt diesen und einen Mitkämpfer in Militäruniform, wie sie mutmaßlich auf russischem Gebiet eine Fahne des proukrainischen, rechtsextremen Russischen Freiwilligenkorps präsentieren.

Was darüber hinaus tatsächlich passiert ist, daran scheiden sich die Geister: Moskaus Inlandsgeheimdienst FSB hatte von zwei getöteten Zivilisten und einem verletzten Kind berichtet, Kreml-nahe Telegram-Gruppen von Geiselnahmen im Gebiet Brjansk, das an die ukrainische Region Tschernihiw grenzt. Eine Drohne soll zudem ein weiteres russisches Dorf unweit der Grenze beschossen haben, berichtete der Gouverneur der Region.

Sind die mysteriösen Aktionen ein Vorzeichen für bewaffnete Rebellengruppen, die den Kampf gegen die Invasion der Ukraine nach Russland selbst hineintragen?

Auch wenn russische Behörden zivile Opfer der mutmaßlichen Rebellenaktion bis Donnerstagabend nicht bestätigten, für viele in Russlands Staatspropaganda standen die Täter schließlich schnell fest: "ukrainische Saboteure." Am Freitag ordnete der russische Präsident Wladimir Putin gegenüber dem – routinemäßig tagenden – Nationalen Sicherheitsrat wegen des Vorfalls, bei dem bis dato weit mehr fraglich ist als klar, schärfere "Anti-Terror-Maßnahmen" an.

  • Wie reagierte die Ukraine? Die Regierung in Kiew dementierte zwar schnell jede Beteiligung an der angeblichen Grenzverletzung, von einer "klassischen Provokation" war die Rede, mit deren Hilfe Moskau einen Vorwand für eine weitere Eskalation seines Angriffskriegs schaffen wolle. Und doch dürfte man auch in Kiewer Regierungskreisen mit Interesse beobachten, wie der Kreml auf den mysteriösen Vorfall reagiert. Mychajlo Podoljak, ein prominenter Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, twitterte noch am Donnerstag, dass die "wachsende Armut" in Russland eben eine "stärkere und aggressivere" Widerstandsbewegung nach sich ziehe. "Fürchtet euch vor euren Partisanen", warnte Podoljak den Kreml kryptisch. In der Vergangenheit hat die ukrainische Armee häufig Drohnenangriffe im Gebiet Brjansk für sich reklamiert, zuletzt war in einem Öldepot ein Feuer ausgebrochen.
  • Wie ist die Lage heute? Am Freitag schließlich meldete die russische Armee, man habe die "Saboteure" über die Grenze zurück in die Ukraine vertrieben und sie dort mit Artillerie bekämpft. Zeitgleich explodierte nach Angaben eines russischen Abgeordneten unweit der Grenze in der Region Brjansk eine Mine, vier Mitglieder der russischen Nationalgarde seien dabei verletzt worden, schrieb Alexander Chinschtejn in seinem Telegram-Kanal.

  • Wer könnte dahinterstecken? Während Präsident Wladimir Putin noch am Donnerstag von einem "Terrorakt" sprach und Kreml-Sprecher Dmitri Petrow am Freitag stärkere Grenzschutzmaßnahmen ankündigte, waren sich – russische und auch westliche – Medien schon von Beginn an sicher, wer der Mann in dem Video ist, das für so großes Aufsehen gesorgt hatte: Denis Kapustin, Kampfname Nikitin, 38 Jahre alt, ein Neonazi aus Moskau, der sich in der Ukraine aufhalten soll.

    Der bullige Mann mit dem Dreitagebart ist alles andere als ein Unbekannter: Als Teenager übersiedelte er mit seinen Eltern als jüdischer Kontingentsflüchtling von Russland ins deutsche Köln, schnell suchte er Anschluss bei rechtsextremen Fußball-Hooligangruppen und wechselte später in die Neonazi-Kampfsportszene, wo er auch einen Onlinehandel für einschlägige Memorabilia aufzog und, allerdings unbestätigt, enge Bande zum Kreml unterhielt.

    Seit 2019 gilt für Kapustin laut "Spiegel"-Informationen ein zehnjähriges Einreiseverbot für den Schengenraum. Schon zwei Jahre zuvor, berichtet hingegen die aus dem Exil operierende russische Recherchewebsite "Meduza", soll der fließend Deutsch sprechende Russe schließlich in die Ukraine übersiedelt sein – und rasch Kontakte zu jenem ukrainischen Kampfbataillon geknüpft haben, das sich anfangs vor allem aus der rechtsextremen Szene speiste, später aber etwa in der Verteidigung von Mariupol verdient machte: Asow.

  • Um welche Gruppe handelt es sich? Seine eigene Miliz, das sogenannte Russische Freiwilligenbataillon, habe von Selenskyj höchstpersönlich grünes Licht für den Kampf gegen die Invasoren erhalten, behauptet Kapustin. Die ukrainische Armee dementiert freilich jede Zusammenarbeit mit dem Neonazi, anders als andere ausländische Verbände gehört das russische Bataillon nicht zur sogenannten Internationalen Legion der ukrainischen Territorialverteidigung. Trotzdem: 45 Mann, so zitiert "Meduza" einen von Kapustins Kämpfern, hätten am Donnerstag die Grenze überschritten, Anschläge auf Zivilisten oder gar, wie von russischen Medien berichtet, Geiselnahmen habe man aber nicht durchgeführt.
Russland verstärkte nach dem Vorfall seine Checkpoints in der Grenzregion Brjansk.
Foto: IMAGO/Sergei Bobylev

Ob sich der so spektakulär inszenierte Einsatz auf der anderen Seite der Grenze aber überhaupt so zugetragen hat, wie die selbsternannte proukrainische Rebellengruppe es behauptet, ist unsicher. Schon am Donnerstag erweckte ein Detail in ebenjenem Video Zweifel, mit dem Kapustin eigentlich einen martialischen Eindruck erwecken wollte. Sowohl Stiefel als auch Uniform der beiden Kämpfer waren da in bestem Zustand zu sehen, von Staub oder sonstigen Beschmutzungen, die auf einem kilometerlangen Marsch im winterlichen Wald wohl unvermeidlich sind, findet sich keine Spur. (Florian Niederndorfer, 3.3.3023)