Istanbul – Das für die kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei gegründete Oppositionsbündnis ist am Freitagnachmittag geplatzt.

Meral Akşener, Vorsitzende der İyi Parti ("Gute Partei"), der zweitgrößten Partei im Sechsparteienbündnis, hat in einer aufsehenerregenden Pressekonferenz erklärt, ihre Partei könne den Kandidaten der übrigen fünf Parteien, den Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, nicht mittragen. "Unser gemeinsames Projekt ist an dem persönlichen Ehrgeiz eines der Mitglieder gescheitert", sagte Akşener, ohne einen Namen zu nennen. "Für den Ehrgeiz dieses Mannes haben wir die İyi Parti nicht gegründet."

Bürgermeister von Istanbul oder Ankara soll kandidieren

Zum Abschluss ihrer Pressekonferenz forderte sie den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu oder wahlweise den Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, auf zu kandidieren. Beide Politiker gehören ebenfalls der CHP an, und jeden dieser beiden würde die İyi Parti unterstützen. Akşener begründete ihren Schritt damit, dass sowohl İmamoğlu als auch Yavaş gemäß allen Umfragen wesentlich aussichtsreichere Präsidentschaftskandidaten wären als Kılıçdaroğlu Sie habe in monatelangen Reisen durch das ganze Land mit sehr vielen Menschen gesprochen, die sich ganz überwiegend gegen einen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu ausgesprochen hätten.

Meral Akşener ließ das Oppositionsbündnis platzen.
Foto: AFP/Altan

Der Konflikt um den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Sechseropposition gärt seit Monaten hinter den Kulissen und hatte bislang dazu geführt, dass die Opposition die Bekanntgabe ihres Kandidaten immer wieder verzögert hat. Dabei war immer wieder durchgesickert, dass Akşener Kılıçdaroğlu zwar als klugen Strategen hinter den Kulissen schätzt, ihn aber als Präsidentschaftskandidaten für ungeeignet hält.

Kemal Kılıçdaroğlu ist seit Mitte der Nullerjahre Vorsitzender der CHP und hat seitdem etliche Wahlen gegen Erdoğan verloren. Kılıçdaroğlu hat kein Charisma und ist ein schlechter Wahlkämpfer. Außerdem gehört er der religiösen Minderheit der Aleviten an und hat schon deshalb bei den mehrheitlich sunnitischen Wählern schlechte Chancen.

Angstgegner

Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu ist das genaue Gegenteil davon. Er kann es als Wahlkämpfer mit Erdoğan aufnehmen, er hat Charisma und ist als gläubiger Sunnit in vielen Wählergruppen anschlussfähig. Außerdem ist er seit seinem Wahlsieg in Istanbul 2019 der Angstgegner von Erdoğan. Gerade deshalb hat Erdoğan mehrere Verfahren gegen İmamoğlu einleiten lassen, von denen eines in erster Instanz bereits zu einer Verurteilung İmamoğlus wegen Beleidigung des Hohen Wahlrates geführt hat.

Seitdem haben die Anhänger Kılıçdaroğlus als Argument für den CHP-Vorsitzenden angeführt, man könne İmamoğlu nicht nominieren, weil er vielleicht noch vor dem Wahltag auch in letzter Instanz verurteilt wird und dann Politikverbot erhalten würde. Akşener hat diesen taktischen Einwand nie akzeptiert und dennoch für İmamoğlu getrommelt. Für den Fall, dass sie die anderen Vorsitzenden dennoch nicht von İmamoğlu überzeugen könnte, hat sie dann wahlweise den ebenfalls in Umfragen sehr gut dastehenden Yavaş vorgeschlagen. Beide Vorschläge aber hat Kılıçdaroğlu beharrlich abgelehnt. Stattdessen hat er mehrfach alle Bürgermeister der CHP, also auch İmamoğlu und Yavaş, dazu verpflichtet, seine Kandidatur als Parteivorsitzender zu unterstützen.

Kılıçdaroğlu hat zwar nun seine Bürgermeister diszipliniert und auch die vier Vorsitzenden der anderen Oppositionsparteien hinter sich gebracht, doch deren Parteien bringen als nicht im Parlament vertretene Kleinparteien nur wenig Gewicht auf die politische Waage. Ohne Akşeners rechtsnationale İyi Parti würde ein Sieg gegen Erdoğan wohl in weite Ferne rücken. (Jürgen Gottschlich, 3.3.2023)