Philosophin Corine Pelluchon spricht sich in ihrem Gastkommentar für eine "Neue Aufklärung" aus, die Ökologie und Fürsorge ins Zentrum stellt.

Die Ideen der Aufklärung von wissenschaftlichem Rationalismus und der Herrschaft der Technik haben uns an den Rand eines Abgrunds geführt. Ohne eine "Neue Aufklärung", in deren Zentrum Ökologie und Fürsorge stehen, gibt es keinen Weg zurück. Die Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert in Europa durchsetzte, stellte alte Normen infrage und versprach der Menschheit eine grenzenlose Zukunft. Sie überzeugte die Menschen davon, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich von den Fesseln der Religion, der Tradition und der Natur emanzipieren müssen. Die Rationalität sollte sie von Aberglaube und Not befreien und eine neue Welt des friedlichen Wohlstands, der Gleichheit und der universellen Menschenrechte einläuten.

Bei der Haltung von Tieren muss es ein radikales Umdenken geben.
Foto: Getty Images

Nichts Fremdes

Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass diese Vision, obgleich in vieler Hinsicht lobenswert, einen grundlegenden Denkfehler aufweist und die Mitverantwortung für Umweltzerstörung und Mord in industriellem Maßstab trägt. Und die destruktive Logik des falschen Dualismus zwischen Mensch und Natur bedroht unsere Zivilisation heute mehr denn je.

Eine Neue Aufklärung müsste diese dualistische Sichtweise überwinden, eine grundlegende Neubewertung unserer moralischen Pflichten gegenüber der Tierwelt und künftigen Generation anstoßen und die Art, wie wir die Erde bevölkern, transformieren. Wir dürfen die Natur nicht länger als etwas Fremdes wahrnehmen, sondern müssen anerkennen, dass wir ein Teil von ihr sind und noch unsere banalsten Handlungen weitreichende Folgen haben können.

"Wir sollten die Landwirtschaft und die Rolle, die normale Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Schaffung einer fürsorglicheren Gesellschaft spielen, neu denken."

Egal, was wir essen, wo wir leben, wie wir arbeiten – wir sind immer auf Ökosysteme und andere Lebewesen angewiesen. Die Neue Aufklärung müsste einen neuen Gesellschaftsvertrag begründen, der diese Abhängigkeit anerkennt, den Schutz der Biosphäre ins Zentrum stellt und ökologische Gerechtigkeit für alle Menschen und Tiere anstrebt. Ihr Kern wäre das Verständnis unserer planetaren Bedingungen, das heißt der Verletzlichkeit, die uns an andere Lebewesen und die Natur bindet. Die Neue Aufklärung dürfte sich nicht mehr ausschließlich auf die menschliche Freiheit konzentrieren, sondern müsste die Bedeutung der Körperlichkeit, Passivität und Interdependenz für die Conditio humana anerkennen. Die Ökologie muss die Grundlage dieser Neuen Aufklärung bilden.

Soziale Dimension

Ihrer griechischen Herkunft nach verkörpert die Ökologie die Lehre von unserer planetaren Heimat, die wir immer mit anderen Lebewesen teilen. Ökologie lässt sich demnach nicht auf den reinen Umweltschutz oder einzelne Probleme wie Klimawandel, Artensterben oder Umweltverschmutzung reduzieren. Sie hat auch eine soziale Dimension, die eine gerechte Verteilung von Ressourcen und die Veränderung unserer Produktionsprozesse einfordert. Und sie hat eine existenzielle Dimension, weil sie ein tiefes Verständnis unserer selbst und unseres Platzes in der Natur voraussetzt.

Tierhaltung – Industrie oder Landwirtschaft?
Foto: Getty Images

Weder die ungehemmte Ausbeutung unserer natürlichen Umwelt noch unsere Blindheit gegenüber unserer eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit lassen sich mit echtem ökologischem Denken vereinbaren. Gemeinsam mit unserer instrumentellen Vernunft macht die Leugnung unserer sterblichen und verwundbaren Natur und unsere Obsession für Kontrolle normale Aspekte des Lebens – Arbeit, Fortpflanzung, Regierung – zu Formen der Kriegsführung. Wenn wir unsere eigenen Grenzen nicht anerkennen, wird es uns nie gelingen, unsere Rechte so zu beschränken, dass wir in Zukunft nicht mehr alles tun dürfen, was wir wollen.

Moralische Revolution

Ganz konkret sollte diese Neue Aufklärung dazu führen, dass wir die Landwirtschaft und die Rolle, die normale Arbeiterinnen und Arbeiter bei der Schaffung einer fürsorglicheren Gesellschaft spielen, neu denken. Seit der Aufklärung wurde der menschliche Fortschritt auf technologische Innovationen und Urbanisierung reduziert. Die alten griechischen Philosophen glaubten, der Ursprung jeder politischen Ordnung sei die Stadt. Karl Marx verspottete die "Idiotie" des Landlebens in seinem Kommunistischen Manifest: Das Proletariat hütet die Geschichte, nicht Schafe. Auch vielen anderen Denkern der Aufklärung galten Landarbeiter als rückständige Klasse.

Womöglich beginnt die moralische Revolution, die wir heute brauchen, aber gerade im Dorf oder auf dem Acker. Während viele moderne Landwirtinnen und Landwirte unter Verschuldung, langen Arbeitszeiten und den Folgen nicht nachhaltiger Praktiken leiden, sind andere aus diesem System ausgebrochen und kultivieren erneut alte Lebensweisen. Sie verzichten auf Monokulturen und setzen stattdessen auf eine diversifizierte und ökosystemische Landwirtschaft, und sie ersetzen die Massentierhaltung durch artgerechtere Formen der Tierhaltung. Sie organisieren sich auf lokaler Ebene, verkaufen gesündere Lebensmittel und bringen kooperative Ideale in den Markt ein. Dank ihrer Arbeit können sich sozial schwache und fast aufgegebene Regionen verjüngen.

"Menschen, die nachhaltige Landwirtschaft betreiben, leben vor, wie Fürsorge für die Natur und für andere funktioniert."

Zur Fürsorge zählt alles, was wir tun, um unsere Welt zu erhalten und zu bewirtschaften. Dazu gehört auch alles, was wir tun, um ländliche und entlegene Regionen so zu transformieren, dass wir gut in ihnen leben können. Menschen, die nachhaltige Landwirtschaft betreiben, leben vor, wie Fürsorge für die Natur und für andere funktioniert, und verkörpern die Werte, auf denen die Neue Aufklärung basieren muss: Demut, Geselligkeit und Solidarität. Nationale Regierungen und die Europäische Union sollten lieber sie unterstützen, anstatt massive Subventionen in die industrielle Landwirtschaft zu pumpen.

Diese Landwirtinnen und Landwirte und alle, die, wie sie, ihre Hoffnung in eine fürsorglichere Welt setzen, sind die stillen Helfer und unbemerkten Vorreiterinnen der Neuen Aufklärung. Wir brauchen ihre Kreativität, wenn wir das, was viele eine globale Polykrise nennen, – Klimawandel, Krieg, Staatspleiten – überleben und lernen wollen, im 21. Jahrhundert gut zu leben. (Corine Pelluchon, Copyright: Project Syndicate, 4.3.2023)