Verbrechen an der Ache: Mittlerweile gehen die Ermittler von einem Mord aus.
Foto: APA/Köchler (2), Oliver Das Gupta

An der Redford-Promenade herrscht an diesem Freitagmittag für einige Minuten Gedränge. Aus der nahen Mittelschule strömen Jugendliche über eine Brücke herüber. Mädchen kichern, ein Jungen reißt einem anderen die Mütze vom Kopf und rennt weg. Die meisten stieren auf ihre Mobiltelefone und trotten den Weg entlang, der wenige Meter parallel zum Ufer des Gebirgsflusses Kitzbüheler Ache verläuft. Für die improvisierte Gedenkstätte am Rand der Promenade interessiert sich keiner der Schüler. Nur ein älteres Paar bleibt stehen, blickt stumm auf die Kerzen und auf den Plüschlöwen, den Plüschpinguin und ein fröhlich lachendes Männchen aus Stoff. Die Senioren schütteln den Kopf.

Am 28. August 2022 wurde dieser Platz am frühen Morgen zum Tatort. Das Opfer heißt Leon A., ein Sechsjähriger aus dem Nachbarort Waidring, der an einem seltenen Gendefekt litt. Das Syngap-Syndrom beeinträchtigte den Jungen geistig und körperlich. Leon hatte im reißenden Wasser der Ache keine Chance, er ertrank. Seine Leiche fand man 600 Meter flussabwärts an einer Sandbank.

Mord statt Raubüberfall

Fest steht, dass dem Tod Leons ein Verbrechen vorausging. Doch bei der Art des Verbrechens gehen die Ermittler inzwischen nicht mehr von einem Raubüberfall aus – sondern von Mord.

Am Montag nahm die Polizei Leons Vater Florian A. fest, inzwischen sitzt er in Untersuchungshaft. Der 38-Jährige steht im Verdacht, seinen hilflosen Sohn getötet zu haben. Den Mord soll er durch eine erfundene Straftat vertuscht haben. Andere Verdächtige gebe es nicht, erklärte Hansjörg Mayr von der Staatsanwaltschaft Tirol dem STANDARD. "Wir ermitteln nur gegen den Vater." Der Beschuldigte streitet alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab, es gilt die Unschuldsvermutung.

Ein Schlag auf den Kopf

Florian A. beharrt auf der Version, die auch zunächst die Annahme der Ermittlungsbehörden war: Der Vater schiebt noch vor Sonnenaufgang seinen behinderten Sohn im Kinderwagen den Weg entlang und wird dabei überfallen. Ein Schlag auf den Kopf, ausgeführt wohl mit einer Flasche, der Vater wird bewusstlos. Als er von Passanten gefunden wird, fehlen Handy und Geldbeutel. Und Leon. Der Kinderwagen ist leer.

Der Junge muss sich selbstständig losgemacht haben und in den wenige Meter entfernten Gebirgsfluss gefallen sein. Das klingt anfangs plausibel, denn das Rauschen des Wassers beruhigte den empfindlichen Jungen, der nachts oft nicht schlafen konnte. Wegen des wohltuenden Rauschens waren Vater und Sohn überhaupt hergefahren. Der unbekannte Räuber muss demnach den Vater bewusstlos und Leon in seinem Buggy zurückgelassen haben. Diese Variante des Verbrechens an der Redford-Promenade verbreitete sich rasch über die Grenzen Tirols und Österreichs hinaus. Selbst in Australien wurde über den Fall berichtet, Fotos des fröhlichen Leon wurden gezeigt.

Im August 2022 wurde ein Sechsjähriger tot in der Kitzbüheler Ache gefunden.
Foto: APA/Köchler (2), Oliver Das Gupta

Fassungslosigkeit

Die internationale Betroffenheit war immens, der Schock in St. Johann ebenso. Ein ertrunkenes Kind, ein Raubüberfall, der Täter unaufgespürt – und das nur wenige Gehminuten vom malerischen Ortszentrum entfernt. In die Fassungslosigkeit mischte sich die Angst, dass der Ruf von St. Johann Schaden nehmen könnte: als Urlaubsziel für all die Niederländer, Norddeutschen und anderen Touristen. Die waren nach den durchwachsenen Corona-Jahren wieder zahlreich zur Sommerfrische erschienen, auch für die Wintersaison war man wieder zuversichtlich. Und dann so ein Verbrechen zum Ausklang eines bis dahin schönen Sommers. Einige Ortsansässige vermuteten, dass der Täter nicht aus ihren Reihen stammt, nicht stammen kann. Manche raunten davon, dass in der Grünanlage nahe des Tatorts Drogenabhängige herumlungern, "Giftler".

Die Ermittler hatten alle infrage kommenden Personen bald abgeklappert. Eine heiße Spur fand sich nicht, die Causa blieb mysteriös.

30.000 Euro für Hinweise auf Täter

Die Eltern von Leon gingen zu seinen Lebzeiten offen mit seiner Behinderung um. Sie gaben Interviews, vernetzten sich mit anderen Betroffenen und sammelten Geld, um die Erforschung des bislang unheilbaren Gendefekts finanziell zu unterstützen. Medial präsent waren sie auch nach dem Tod ihres Kindes: Der Kronen Zeitung gaben sie wenige Tage später ein Interview und überließen dem Boulevardblatt Fotos von der Trauerfeier. Später lobten die Eheleute A. 30.000 Euro aus für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen.

Es wurde das Foto einer Sektflasche veröffentlicht, mit der der Täter den Vater angeblich k. o. geschlagen hatte. Florian A. erzählte von einer Person im Kapuzenpulli, die er vor dem Überfall gesehen haben will. Ein Zeugenaufruf wurde gestartet.

Ermittler werden stutzig

Der Vater erwähnte diese angebliche Begegnung in ersten Befragungen offenbar nicht, das soll die Ermittler stutzig gemacht haben, ebenso weitere Ungereimtheiten. Um welche Aspekte es sich genau handelt, machen die Behörden bislang nicht offiziell, doch manches tropfte in Medien durch: So zeige ein Foto, dass der Vater die Sektflasche, mit der er angeblich niedergeschlagen wurde, selbst im Kinderwagen mitgeführt habe. Auch sein Handy soll den Vater belasten: Der Schrittzähler sei nicht zeitgerecht inaktiv gewesen, außerdem soll der Mann das Mobiltelefon in den Müll geworfen haben.

Gerade die Sache mit dem Handy wirkt kurios, wenn man am Tatort steht: Der effektivere Weg, ein Handy verschwinden zu lassen, wäre ein Wurf in das wilde Wasser der Ache.

Alle Indizien deuteten auf einen Überfall mit besonders tragischen Umständen hin – bis der Vater in U-Haft genommen wurde.
Foto: APA/Köchler (2), Oliver Das Gupta

"Absurde" Vorwürfe

Florian A.s Rechtsbeistand hält gegen die Vorwürfe vehement dagegen: Sämtliche Indizien gegen seinen Mandanten seien "haltlos", sagte er der Tiroler Tageszeitung. Man könne keinesfalls feststellen, dass es sich bei der Flasche im Kinderwagen um dieselbe Tatflasche gehandelt habe. "Die Polizei wirft ihm scheinbar vor, er habe seinen Sohn von seiner Krankheit erlösen wollen." Die Vorwürfe seien "absurd", sagte er – eine Formulierung, für die er inzwischen von der Justiz gerüffelt wurde: Man erwarte mehr Sachlichkeit, auch bei Kritik. Der Anwalt reagierte bislang nicht auf eine Anfrage des STANDARD.

In St. Johann drückt die neueste Entwicklung in dem Fall auf die Stimmung der Einheimischen. "Furchtbar", sagt die Verkäuferin in der Bäckerei, "furchtbar", sagt auch ihre Kollegin. "Die Sache ist schon sehr dubios", sagt die Kassiererin im Supermarkt.

"Die Sache begann schlimm, jetzt ist es noch viel schlimmer", sagt eine Frau im Kaffeehaus. Sie behauptet, die Familie zu kennen, und hadert mit der Vorstellung, dass der Vater Leon getötet haben könnte. "Egal, wie es ausgeht", sagt sie schließlich. "Die Familie A. muss aus der Region wegziehen, die haben hier keine Chance mehr." (Oliver Das Gupta, 3.3.2023)