Ein Jahr und neun Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs war von Ermüdung keine Spur – weder auf dem Podium noch im Publikum des Wiener Burgtheaters.

Foto: Robert Newald

Michael Clarke.

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Nathalie Tocci.

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Olga Tokariuk.

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Moderator Misha Glenny.

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Ursula Plassnik.

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Mischa Gabowitsch.

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Während auf dem Eislaufplatz gegenüber morgendliche Spuren in das Gefrorene gezogen wurden, waren die Diskutantinnen und Diskutanten bei "Europa im Diskurs" im Burgtheater am Sonntagvormittag bemüht, sich in der Debatte über den Ukrainekrieg nicht im Kreis zu drehen.

Die Matinee, die DER STANDARD gemeinsam mit dem Wiener Burgtheater, der Erste-Stiftung und dem Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) am Sonntag veranstaltete, war gut besucht – das Publikum erwies sich des Themas, ein Jahr Ukrainekrieg nämlich, keineswegs überdrüssig.

"Es geht um die Existenz"

Von Ermüdung ist exakt ein Jahr und neun Tage nach Kriegsbeginn auch auf dem Podium keine Spur: "Dieser Krieg ist für die Ukraine einfach zu definieren: Es geht um nicht weniger als um die Existenz", sagt die Kiewer Journalistin Olga Tokariuk, die aktuell in Oxford forscht. Das Ziel Russlands sei es, die ukrainische Identität auszuradieren, sein Krieg drehe sich nicht zuallererst um Territorien, sondern um Menschen. "Natürlich sind die Leute dort müde, wir haben viele unserer besten Jungen verloren."

Die westliche Waffenhilfe müsse gerade deshalb nicht nur stabil bleiben, sondern noch größer werden. Von einem Sieg sei ihr Land nämlich noch weiter entfernt, als es angesichts des großen Widerstandswillens den Anschein mache.

"Sturm vor der Ruhe"

Dass es damit demnächst so weit sein könnte, glaubt auch Michael Clarke nicht. Bevor es besser werden könne, müsse es erst noch schlimmer werden, prognostiziert der Brite, der am Londoner King’s College forscht und für die BBC die militärische Lage analysiert. In den kommenden sechs Monaten dürfte sich der Krieg noch verschärfen.

Was die Ukraine nun – neben Offensivwaffen aus dem Westen wie etwa Kampfjets – brauche, sei eine neue Erfolgswelle, ähnlich wie jene im vergangenen Herbst, als man im Norden und Süden des Landes verlorene Gebiete zu befreien vermochte. Gerade dort setze Russland aber nun zu einer neuen Offensive an, vermutet der Professor.

Für Verhandlungen sei derzeit kein Raum. "Wenn die Ukraine es schafft, die Krim zu bedrohen, wäre das ein großes Verhandlungsargument." Erst dann könne der Konflikt wieder auf politischer Ebene geführt werden. Was es brauche, sei "ein Sturm vor der Ruhe".

"Wladimir Putin ist Wladimir Putin"

Nathalie Tocci, Direktorin des Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rom und aktuell Fellow am IWM, hält die Angst vor einer möglichen Spaltung des Westens, was seine Unterstützung für die Ukraine betrifft, für großteils herbeigeredet. "Es gab schon vor dem Krieg große Unterschiede in Europa, wie man mit der Ukraine und Russland umgehen sollte." Seit Kriegsbeginn seien diese aber kleiner geworden.

Das russische Pokern sei bisher nicht belohnt worden. "Wäre Wladimir Putin nicht Wladimir Putin und würde andeuten, dass er gerne verhandeln möchte, wäre die Spaltung in Europa viel größer." Der relativ warme Winter, die Corona-Lockdowns in China und die beschleunigten Investitionen in nachhaltige Energieformen hätten die Situation in Europa weniger dramatisch werden lassen als im Sommer 2022 befürchtet, sagt Tocci. "Wir können uns da auf die Schultern klopfen."

Parallele zu 1943

Der Historiker Mischa Gabowitsch, auch er forscht als Fellow am IWM, erläutert, dass es dem russischen Präsidenten Putin gelungen sei, einen großen Teil seines Volkes zu einer unpolitischen Masse zu erziehen. "Wir sind an einem Punkt wie Deutschland 1943, der Krieg ist zwar zu spüren, ist aber noch nicht im Alltag der Menschen angekommen", sagt Gabowitsch.

Autoritäre Führer brauchten zudem regelmäßig kleine kriegerische Erfolge, um die Menschen davon abzulenken, was im Land selbst geschehe. Was heute in Russland passiere, werde in Peking aufmerksam studiert: "In Bezug auf Taiwan stimmt mich das pessimistisch."

Die ehemalige Außenministerin Ursula Plassnik (ÖVP) ruft in Erinnerung, dass weite Teile des Globalen Südens Putins Aggression keineswegs verurteilen. Die Institutionen und Regeln, die sich die Weltgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verordnet habe, seien schlicht nicht mehr effizient. 86 Prozent der Menschheit lebten in Ländern, die die Sanktionen gegen Putin nicht mittragen, rechnet Plassnik vor. "Wir müssen endlich aufhören zu träumen", fordert sie.

Plassnik fordert Debatte

Und hierzulande? "Es gibt in Österreich seit 25 Jahren keine Debatte mehr über Sicherheitspolitik und die Neutralität", beklagt sie. Warum das so sei, könne aber nicht sie analysieren, sagt Plassnik, sondern eher jemand, der einst ganz in der Nähe des Burgtheaters wirkte: Sigmund Freud. (Florian Niederndorfer, 5.3.2023)