Ende April 1986 ereignete sich in Tschernobyl in der Ukraine der bisher schwerste Atomunfall der Geschichte. In rund 100 Kilometern Entfernung von Kiew kam es zu schweren Explosionen und einem Brand, durch den radioaktiver Niederschlag in die Atmosphäre gelangte. Mehr als 40 Personen kamen unmittelbar danach ums Leben, während die Zahl der Langzeittoten durch Strahlenvergiftungen zumindest in die Tausende geht.

Fast 37 Jahre später ist das Gebiet rund um den Reaktor ein dystopisches Niemandsland, das aber sehr wohl von Leben bevölkert ist: Viele Tierarten haben sich rund um die Kraftwerksruinen niedergelassen, weil sie hier keine Verfolgung durch den Menschen fürchten müssen. So haben sich auch Wildpferde in der Region angesiedelt. Zu den Bewohnern gehören aber auch hunderte halb wild lebende Hunde, die zum Teil unmittelbar neben dem ehemaligen Kraftwerk leben, zum Teil einige Kilometer weit entfernt.

Zwei der untersuchten Hunde in der Nähe des neuen Sarkophags (links hinten), der den zerstörten Reaktorblock 4 umhüllt. Dieser Schutzmantel verringert seit 2016 das Austreten von radioaktiver Strahlung.
Foto: Tim Mousseau / AP

Aber wie ist es den Hunden gelungen, in dieser strahlenverseuchten Umgebung über mittlerweile mehr als 15 Hundegenerationen zu überleben? Wie wirkte sich die ständige Strahlenbelastung auf die Tiere aus? Und lässt sich dadurch auch etwas für den Menschen lernen? Zu diesen Fragen wird es in den nächsten Monaten mehrere Studien geben, die den genetischen Veränderungen bei den streunenden Vierbeinern in der Sperrzone gewidmet sein werden und an denen mit Elaine Ostrander die weltweit führenden Hundegenetikerin mitarbeitet.

302 untersuchte halbwilde Hunde

Eine erste Untersuchung, die im Fachblatt "Scientific Advances" veröffentlicht wurde, konzentrierte sich auf die DNA von 302 freilaufenden Hunden, die in einer offiziell ausgewiesenen Sperrzone um den Katastrophenort lebten und leben. Einige der Hunde sind in unmittelbarer nähe zur Kraftwerksanlage zu Hause, andere in einer Entfernung von 15 oder 45 Kilometern.

Die insgesamt rund 800 Hunde in diesem Bereich gelten als halbwild, da sie gelegentlich Kontakt zu Menschen haben. Arbeiter und Forscherinnen in dem Gebiet füttern die Tiere immer wieder, während Tierärzte gelegentlich das Gebiet aufsuchen, um Impfungen aufzufrischen und gesundheitliche Probleme der Hunde zu behandeln.

Einer dieser Wissenschafter, die mit den Hunden regelmäßig Kontakt haben, ist Timothy Mousseau, der seit den späten 1990er-Jahren in der Tschernobyl-Region forscht. Der Professor für Biowissenschaften an der Universität von South Carolina begann 2017, den Hunden rund um Tschernobyl Blut zu entnehmen. Und diese Proben wurden nun erstmals auf die Hunde-DNA untersucht.

Genetische Unterschiede je nach Entfernung

Die Forschenden waren ursprünglich davon ausgegangen, dass sich die Hunde im Lauf der Zeit so sehr vermischt hätten, dass sie einander sehr ähneln würden. Doch das Team um Ostrander und Mousseau konnte bereits mit den ersten Analysen Populationen unterscheiden, die sich aufgrund der unterschiedlichen Strahlenbelastung genetisch voneinander und von anderen Hunden weltweit unterscheiden. "Das war ein wichtiger Meilenstein für uns", sagt Ostrander. "Und das Erstaunliche ist, dass wir auf diese Weise sogar etwa 15 verschiedene Rudel identifizieren können."

Eine Gruppe von halbwilden Hunden in Tschernobyl. Die Forschenden konnten verschiedene Rudel allein auf Basis der DNA identifizieren, die wiederum je nach Entfernung vom Kernkraftwerk stärker oder schwächer verändert ist.
Foto: Tim Mousseau

Die Analysen befinden sich noch in einem relativ frühen Stadium. "Die nächste Phase dieser Studie wird darin bestehen, unsere Vergrößerung auf die Ebene des gesamten Genoms auszuweiten", sagt Tim Mousseau. In den nächsten Untersuchungen wollen die Forschenden gezielt nach den spezifischen Veränderungen in der DNA suchen.

Anwendbare Erkenntnisse

Dabei sollen nichtfunktionale von funktionalen Mutationen unterschieden werden, erklärt Ostrander. Diese weiteren Studien könnten Aufschlüsse darüber liefern, wie Tiere und Menschen genetisch auf dauerhaft hohe Strahlungen reagieren – etwa auch in der strahlungsreichen Umgebung des Weltraums bei Reisen zum Mars.

Die Fachleute wollen für die Folgeuntersuchungen mehr Zeit bei den Hunden von Tschernobyl verbringen. Mousseau war zuletzt mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Oktober vergangenen Jahres in der Ukraine und hat dabei keine kriegsbedingten Aktivitäten festgestellt. Das Team habe sich mit einigen Hunden angefreundet, sagt der Forscher. "Obwohl sie wild sind, genießen sie die menschliche Interaktion sehr. Vor allem wenn es etwas zu fressen gibt." (Klaus Taschwer, 7.3.2023)