Die wochenlangen Proteste gegen die Pensionsreform setzen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron politisch stark unter Druck.

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron muss sich auf gehörigen Gegenwind einstellen: Seine Pensionsreform war wochenlang Anlass für zahlreiche Protestkundgebungen und Streiks – ab Dienstag soll deren Dimension noch einmal vergrößert werden. Macron, der da und dort außenpolitisch punkten kann, innenpolitisch aber extrem unbeliebt ist und unter Druck steht, schickt seine Regierung vor. Nachgeben will er nicht, handelt es sich doch um das wichtigste Projekt seiner Amtszeit.

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DER STANDARD

Frage: Was passiert am Dienstag?

Antwort: Die Gewerkschaften und Linksparteien rufen ein weiteres Mal zum Widerstand gegen die Pensionsreform auf. Vor allem die Schulen und der öffentliche Verkehr werden bestreikt. Die französische Bahn meldete einen Ausfall von etwa 80 Prozent ihrer Fernzüge. In Paris und anderen Großstädten war der öffentliche Nahverkehr massiv gestört. In zahlreichen Schulen fiel der Unterricht aus. Zwischen 20 und 30 Prozent der Flüge sollten ausfallen. Aus einigen Großstädten wurden Straßenblockaden gemeldet. Auch sämtliche Raffinerien wurden blockiert.

In 260 französischen Orten sind Demonstrationen geplant. Die Gewerkschaften treten geschlossen an und hoffen auf mehr als eine Million Teilnehmer. Diese Zahl gilt als Gradmesser für den Erfolg der Proteste. Die Gesetzesvorlage wird seit Wochen im Parlament diskutiert. Die Linke versucht, mit systematischer Obstruktion eine Abstimmung im Senat wie in der Nationalversammlung zu verhindern.

Frage: Was treibt die Reformgegner und Reformgegnerinnen an?

Antwort: Der Widerstand richtet sich vor allem gegen die Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre. Sie wird als sozialer Rückschritt empfunden. Zudem scheint der Moment für eine solche Reform schlecht gewählt: Nach Covid-Pandemie und Hitzerekorden im Sommer 2022 nimmt die Kritik am leistungsorientierten Gesellschaftsmodell zu. Viele junge Leute wollen weniger arbeiten – und nicht länger. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die geplante Abschaffung der Sonderkassen für öffentlich Bedienstete. Manche gehen bisher mit 50 in Pension.

Frage: Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen?

Antwort: Laut den Gewerkschaften sind es schlechter Verdienende mit körperlich anstrengenden Jobs: 25 Prozent von ihnen würden schon vor Erreichen des 64. Lebensjahrs sterben. Bei den Büroangestellten seien es fünf Prozent. Frauenverbände meinen, Mütter hätten in der Reform mehr zu verlieren als andere, da ihre Beitragsjahre durch die Kinderbetreuung häufig unterbrochen würden. Die Regierung sagt, sie trage diesem Umstand mit neuen Konzessionen Rechnung.

Leidtragende sind zudem die Senioren: Sie werden von ihren Arbeitgebern häufiger als in anderen Ländern entlassen: Von den über 55-Jährigen sind in Frankreich nur 56 Prozent beruflich aktiv. Die Regierung scheint das erst in der Parlamentsdebatte gemerkt zu haben: Sie will nun Unternehmen zwingen, einen Mindestanteil an Senioren zu beschäftigen, und plant für sie einen speziellen Schutzvertrag.

Heute noch junge Leute sind von der Reform nicht stark betroffen. Bei Demos sind aber auch sie stark vertreten. Viele wenden sich gegen die "produktivistische" Grundhaltung der Reform, viele glauben, dass es kein Pensionssystem mehr geben werde, wenn sie einmal ins entsprechende Alter kommen.

Frage: Wie reagiert Macron auf die massiven Proteste?

Antwort: Der innenpolitisch alles andere als populäre Präsident hält sich bewusst aus der Schusslinie. Seiner Regierung gelingt es indes nicht, den Menschen das Reformziel näherzubringen. Premierministerin Elisabeth Borne hat es nicht einmal geschafft, "linke" Aspekte der Reform – wie etwa die Einführung einer Mindestpension von 1.200 Euro – zu "verkaufen": Bis heute ist unklar, wie weit die Ausnahmen von dieser sehr teuren Maßnahme gehen werden. Um das Projekt zu retten, muss Borne außerdem immer mehr Konzessionen machen. Das beeinträchtigt das Grundziel der Reform, einen ausgeglichenen Pensionshaushalt bis 2030 zu schaffen.

Kompliziert wird die Lage für Macron auch, weil sein Lager in der Nationalversammlung keine Mehrheit hat, weshalb der Präsident auf die Schützenhilfe der konservativen Republikaner angewiesen ist. Diese aber stellen erstaunlicherweise vermehrt soziale Forderungen. Die Macronisten verdächtigen sie, die Regierung so zu Fall bringen zu wollen.

Frage: Wie wird es weitergehen?

Antwort: Die Gewerkschaft CGT ruft zumindest für die Pariser U-Bahn zur "unbefristeten" Fortsetzung des Streiks auf. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon würde gerne die ganze Wirtschaft des Landes lahmlegen. "Blockiert, so viel ihr könnt", rief er am Wochenende einem studentischen Publikum zu.

Die Regierung warnt indes vor einer Radikalisierung der Proteste, die schnell in Gewalt und Krawalle ausufern könnten. Die Frage ist, für welche Seite das kontraproduktiv wäre. Vorläufig bleiben laut Umfragen bis zu 70 Prozent der Französinnen und Franzosen gegen die Reform. 1995 hatte Premier Alain Juppé eine ebenso unpopuläre Pensionsreform nach dreiwöchigen Protesten und Sperren abblasen müssen.

Macron kann sich einen Rückzieher politisch kaum leisten, stellt doch die Pensionsreform das Kernstück seiner beiden fünfjährigen Amtszeiten dar. Die nächsten Tage dürften die Entscheidung bringen. Es wird zweifellos ein Kampf auf Biegen und Brechen. (Stefan Brändle aus Paris, APA, 7.3.2023)