Mit dem gemeinsamen Kandidaten Kılıçdaroğlu hat die Opposition erstmals nach 20 Jahren Amtszeit von Erdoğan eine echte Chance, einen Kurswechsel durchzusetzen.

Foto: EPA/SAVAS

Nach drei dramatischen Tagen war es am Montagabend dann doch geschafft: Die türkische Opposition nominierte mit Kemal Kılıçdaroğlu einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentenwahl am 14. Mai. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen CHP wird als Kandidat eines Bündnisses von sechs Parteien gegen den Langzeitherrscher, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, antreten.

VIDEO: Zahlreichere Erdbeben-Überlebende sind noch in provisorischen Zelten untergebracht. Auch in der südanatolischen Kleinstadt Nurdağı, die vollständig abgerissen werden soll. Das STANDARD-Videoteam war vor Ort.

DER STANDARD

Auch die nicht dem Bündnis angehörende links-kurdische HDP hat signalisiert, dass sie Kılıçdaroğlu unterstützen könnte. Damit hat die Opposition erstmals nach 20 Jahren Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan eine echte Chance, einen radikalen Kurswechsel in der Türkei durchzusetzen. Das in einem Zwölf-Punkte-Programm festgelegte Ziel der Opposition ist es, das autokratische Präsidialsystem wieder abzuschaffen und zu einer parlamentarischen Demokratie zurückzukehren.

Außerdem soll die Gewaltenteilung wiederhergestellt und die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet werden. "Wir werden Recht und Gerechtigkeit" wieder durchsetzen und das Land "auf der Grundlage von Konsultationen und Kompromissen" führen, statt auf Basis der Macht eines einzigen Mannes, kündigte Kılıçdaroğlu nach seiner Nominierung am Montagabend an. Die Kandidatur des 74-Jährigen war zuletzt heftig umstritten.

Eklat im Endspurt

Nachdem die sechs Parteien sich über ein Jahr lang regelmäßig getroffen und ihr gemeinsames Programm ausgearbeitet hatten, kam es am Ende bei der Nominierung des Kandidaten zum Eklat. Meral Akşener, Vorsitzende der İyi Parti, der zweitgrößten Partei im Bündnis, lehnte Kılıçdaroğlu zunächst ab und forderte, dass entweder der CHP-Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, oder sein Kollege aus Ankara, Masur Yavaş antreten sollten, da beide wesentlich populärer als Kılıçdaroğlu seien.

Beide Oberbürgermeister starteten daraufhin, auch im Auftrag ihres Parteivorsitzenden Kılıçdaroğlu, eine Vermittlungsmission, die erst am Montagnachmittag zum Erfolg führte. Akşener akzeptierte am Ende als Kompromiss, dass İmamoğlu wie Yavaş im Wahlkampf eine herausragende Stellung einnehmen und nach einem Wahlsieg starke Vizepräsidenten von Kılıçdaroğlu werden sollen.

Die Schwächen Kılıçdaroğlus

"Wir wären eliminiert worden, wenn wir uns gespalten hätten", sagte Kılıçdaroğlu nach seiner Nominierung und machte damit noch einmal deutlich, wie knapp die Opposition einem selbstfabrizierten Desaster entkommen ist. Dass er selbst daran mitschuldig ist, weil er unnachgiebig daran festgehalten hatte, der Herausforderer Erdoğans zu werden, sagte er nicht. Denn Kılıçdaroğlu hat als Kandidat Schwächen.

Der Mann, der 2010 die Führung der größten Oppositionspartei CHP übernahm, hat es in den letzten 13 Jahren kaum geschafft, Erdoğan Paroli zu bieten. Er sei zu weich – sein Spitzname ist "Gandhi der Türkei" – und rhetorisch zu schwach, um gegen Erdoğan zu bestehen, sagen seine Kritiker. Außerdem gehört er der religiösen Minderheit der Aleviten an, was viele der mehrheitlich sunnitischen Wählerinnen und Wähler in der Türkei abschrecken könnte.

Heißer Wahlkampf erwartet

Was Kılıçdaroğlu aber mit der Formierung des Sechs-Parteien-Bündnisses bewiesen hat, ist seine Fähigkeit, Strippen zu ziehen und Kompromisse zu schließen. Werden İmamoğlu und Yavaş nun in die Führung des Oppositionsbündnisses eingebunden, könnten sie die Schwächen von Kılıçdaroğlu ausgleichen und die Erfolgschancen der Opposition erhöhen.

Denn Präsident Erdoğan steht nach 20 Jahren an der Spitze der Türkei tatsächlich mit dem Rücken zur Wand. Der Mann, der einst für den ökonomischen Aufschwung des Landes verantwortlich gemacht wurde, hat die Türkei in den letzten Jahren wirtschaftlich vor die Wand gefahren und zuletzt nach Meinung vieler Türkinnen beim Krisenmanagement nach dem Erdbeben versagt. Viele Wähler wollen einen Wechsel, auf das Land kommt ein heißer Wahlkampf zu. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 7.3.2023)