Eine Zange, ein Hufeisen – die animierten Grafiken und Karten, die die Lage um Bachmut beschreiben, verheißen derzeit nichts Gutes für die letzten ukrainischen Verteidiger der ostukrainischen Stadt. Eigentlich schon länger. Wie schwer es den Russen und prorussischen Söldnersoldaten aber insgesamt fällt, die kleine, ehemals 70.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Stadt einzunehmen, zeigt auch ihr Bekanntheitsgrad. Schon seit Sommer 2022 läuft der Vorstoß. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Dezember zu einem waghalsigen Frontbesuch in Bachmut eintraf, schienen die ukrainischen Tage der Stadt schon gezählt. Knappe drei Monate später twittern die letzten verbliebenen Territorialverteidigungskräfte jedoch immer noch täglich "Bakhmut holds".

Der aktuelle Frontverlauf.

Die Stadt wäre wohl wie Soledar nur kurz im weltöffentlichen Interesse gestanden, würden ihr die Kriegsparteien nicht so viel symbolische Bedeutung beimessen und würden die Verteidiger nicht immer wieder für Überraschungen sorgen. Ein ukrainischer Rückzug aus der strategisch großteils unwichtigen Stadt wird aber von immer mehr Militärexperten als logischer Schritt in den kommenden Tagen oder Wochen prophezeit. Man solle sich zurückziehen auf die längst gut ausgebauten Verteidigungslinien vor Kramatorsk – ein wahrscheinliches nächstes Etappenziel beim Versuch Russlands, die kompletten Oblaste Luhansk und Donezk zu kontrollieren.

Bewegen Sie mit dem Cursor die kleine Kugel, um den langsamen russischen Vormarsch auf Bachmut im Zeitverlauf zu verfolgen.

In diese Warnungen vor einer drohenden Teilniederlage der ukrainischen Armee mischte sich am Montag relativ überraschend die Aussage des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin, in der er den Kreml vor eine Entscheidung stellte: mehr russische Waffen oder ein Abzug seiner Söldner.

Unfassbare Verluste

Das schwierige Machtverhältnis aufseiten der russischen Angreifer – wo es die regulären Streitkräfte mit der eigentlich in Russland verbotenen Privatarmee zu balancieren gilt – dürfte dadurch erneut komplizierter geworden sein. Klar ist aber, dass der unfassbare Verschleiß an Menschenleben in und um Bachmut für beide Seiten fatal ist. Glaubt man den spärlichen Informationen von westlichen Geheimdiensten, dürfte es für die russische Seite jedoch ungleich fataler sein.

Das würde sich jedenfalls mit militärischen Überlegungen decken, die angreifenden Armeen meist Verluste im Verhältnis 5:1 oder 7:1 gegenüber Verteidigern zuschreiben. Mehr als 10.000 Russen sollen manchen Berichten zufolge im Kampf um Bachmut gefallen sein. Das käme in etwa an die sowjetischen Verluste während der fast zehnjährigen Afghanistan-Intervention heran, sollten die Zahlen tatsächlich stimmen. All das für ein paar Kilometer Verschiebung der Frontlinie und eine von Russland selbst zerstörte Stadt.

Nur mehr rund 4.500 Zivilistinnen und Zivilisten sollen sich in der Stadt, die einst 70.000 Menschen zählte, aufhalten.
DER STANDARD

In der ukrainischen Führungsriege spricht man dem Vernehmen nach nicht sehr gerne über die mutmaßlichen Meinungsunterschiede beim Thema Bachmut. Selenskyi soll sich mehrmals mit verschiedenen Top-Generälen uneinig gewesen sein, wie lange die Verteidigung der Stadt, oder dessen, was von der Stadt noch übrig ist, noch fortgesetzt werden soll. Einige Militärs sollen sich für einen strategischen Rückzug ausgesprochen haben, um Kräfte zu schonen und Gegenoffensiven andernorts vorzubereiten.

Für Selenskyj jedoch gilt die Devise: "Keine Stadt wird aufgegeben." Es gibt Gerüchte, wonach die Entlassung des Donbass-Kommandanten Eduard Moskalow ähnlichen Meinungsverschiedenheiten geschuldet sei. Gut möglich aber auch, dass Selenskyj öffentlich anders kommuniziert, als er intern denkt. Aktuell schaut es aber danach aus, als würde man noch einmal alles Machbare in die Verteidigung stecken. Auch deshalb schickte man neue Spezialkräfte zur Verstärkung.

Rückzug heikel, aber militärischer Usus

Laut dem Militärexperten Mick Ryan – ein australischer Ex-Generalmajor mit Kampferfahrung in Afghanistan und im Irak, der auch die United States Joint Chiefs of Staff als Stratege beriet – ist es dennoch klar, dass die Ukraine auch schon den Rückzug längst geplant hat, ob er tatsächlich kommt oder nicht. Die Schließung des Hufeisens, eine Einkesselung der ukrainischen Streitkräfte, gilt nämlich als logischer nächster Zug.

Womöglich wollen sich die Russen aber auch die Möglichkeit bewahren, auf jene Kräfte zu feuern, die die Verteidiger mit Nachschub versorgen. Das glaubt zumindest der ehemalige Bundeswehroberst Ralph Thiele im t-online-Interview. Die Ukraine hat selbst die meisten Zugänge in die Stadt zerstört. Einzig und allein eine Straße im Westen versorgt die Frontkämpfer mit frischem Material und neuem Personal.

Die Grabenkämpfe um Bachmut erinnern an jene aus dem Ersten Weltkrieg.
Foto: AP /Libkos

Was medial gerne als große Niederlage gesehen wird, muss laut Ryan aber nicht unbedingt eine solche sein. Ein Rückzug gehöre zum militärischen Einmaleins, erklärt er auf Twitter. Während der mobilen Verteidigung oder der Verzögerung werde dieser Schachzug regelmäßig eingesetzt, "um das Gesamtziel der Wiederaufnahme der offensiven Aktion zu erreichen", zitiert er etwa die australische Armee-Doktrin. Es sei vielmehr Routine, nicht zwingend ein Vorbote einer Katastrophe.

Für den Fall des Rückzugs brauche es aber einen gewissen Grad an Täuschung, penible Vorbereitung, sehr viel Feuerunterstützung und eine effektive Nachhut – jenen Truppenteil, der die abziehenden Truppen vor dem Gegner schützt, erklärt Ryan. Denn die Ukraine wird für eine mögliche Gegenoffensive im Frühjahr auch noch viele Kräfte brauchen. (TEXT: Fabian Sommavilla, GRAFIK: Robin Kohrs, 8.3.2023)