Einjährige, die 40 Wochenstunden in der Kinderkrippe verbringen sind – zumindest in Wien – keine Seltenheit mehr.
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Es ist 7.30 Uhr an einem Donnerstagmorgen vor einem privaten Kindergarten in Wien. Ein kleiner Junge in olivgrüner Steppjacke läuft den Gehsteig entlang. Seine Mutter geht in schnellen Schritten ein paar Meter hinter ihm. Als der Junge bei einem Zeitungsständer stehen bleibt, sagt sie bestimmt: "Julian wir kommen zu spät, auf geht’s!" Am Morgen bleibt wenig Zeit zum Trödeln, sie möchte um 8 Uhr in der Arbeit sein. Ihr Mann und sie arbeiten beide in Vollzeit. Seit Julian ein Jahr alt ist, besucht er die Kinderkrippe. Meist holt ihn sein Papa gegen 17 Uhr ab, manchmal die Oma. Im Schnitt verbringt er 40 Stunden pro Woche in der Fremdbetreuung. In der Kinderkrippe ist Julian aber bei weitem nicht das jüngste Kind.

Teilzeitdebatte

Die Debatte über Teilzeit in Österreich hat in den vergangenen Wochen an Fahrt aufgenommen. Insbesondere die Rolle der Mütter in der Arbeitswelt und die damit verbundene Herausforderung, Kind und Karriere unter einen Hut zu bekommen, stehen im Fokus der Diskussionen. Laut Statistik Austria befindet sich jedes dritte Kind (29,1 Prozent) zwischen null und zwei Jahren in Fremdbetreuung, der Großteil davon in Wien (44,3 Prozent). Nur jede dritte Österreicherin mit einem Kind unter drei Jahren ist überhaupt berufstätig. Davon arbeiten 83 Prozent in Teilzeit (unter 36 Wochenstunden). Das soll sich ändern. Eltern sollen beruflich schnell wieder durchstarten können. Politik und Wirtschaft sind einig: Betreuungsplätze müssen weiter ausgebaut werden, vor allem für unter Dreijährige. Niemand, keine Mutter und kein Vater, darf in der Teilzeitfalle landen.

Die Kinder selbst haben in der gesamten Debatte bisher noch wenig Beachtung bekommen: Was macht es mit einem kleinen Kind wie Julian, wenn es sehr früh in die Kinderkrippe kommt und den ganzen Tag dort verbringt? Geht es ihm gut, oder gibt’s Defizite?

Zeit für Trost

Entwicklungspsychologin Tina Eckstein-Madry von der Universität Wien beforscht seit vielen Jahren Krippen und Kindergärten: "In den Betreuungseinrichtungen warten viele neue Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten auf Kinder. Vor allem die soziale und kognitive Entwicklung wird durch die Betreuung in Gruppen von mehreren Kindern stark angeregt." Wie es einem Kind in der Krippe oder im Kindergarten geht, hängt laut der Forscherin letztendlich von zwei Faktoren ab: Qualität der Betreuung und Betreuungsschlüssel. Bei einem schlechten Betreuungsschlüssel oder bei Personalmangel verringert sich die Zeit, die Pädagoginnen und Pädagogen direkt für das Kind haben. Dies ist vor allem für kleine Kinder problematisch: "Je jünger das Kind, desto intensivere Betreuung verlangt es. Es kann seine Bedürfnisse noch nicht aufschieben." Konkret spricht Eckstein-Madry von emotionalen Bedürfnissen, wie getröstet werden, Zuwendung erhalten oder gemeinsam spielen. Kommt niemand, um zu trösten, passiert laut der Entwicklungspsychologin Folgendes: "Das Kind hört damit auf, seine Bedürfnisse überhaupt zu äußern." Damit "verlernen" Kinder langfristig, sich im Kindergarten Trost oder Zuwendung zu holen.

"Die Bedürfnisse von kleinen Kindern können in großen Gruppen leicht übersehen werden." – Tina Eckstein-Madry, Entwicklungspsychologin

Der eklatante Personalmangel für die Betreuung von Kleinkindern ist kein Geheimnis. Bis 2030 könnten 13.700 Fachkräfte fehlen. Das geht nicht nur auf Kosten der Kinder: "Wir Pädagoginnen sind völlig ausgebrannt", sagt Caro, die eigentlich anders heißt. Die Elementarpädagogin arbeitet seit acht Jahren für einen großen privaten Träger in Wien. Es ist keine Seltenheit, dass sie mit 25 Kindern alleine im Raum steht. Da geht nur das Nötigste: "Essen richten, wickeln, Kinder sauber machen." Ein guter Betreuungsschlüssel (mindestens drei Betreuerinnen für 25 Kinder) könnte die Arbeitsverhältnisse massiv verbessern. Aber auch der Lärm in großen Gruppen sei eine Belastung für Personal und Kinder: "Am Ende des Tages haben wir alle Kopfschmerzen." Eckstein-Madry konnte auch in ihren Forschungsarbeiten feststellen, dass Lärm und vielfältige Eindrücke bei Kindern Stress auslösen. Außerdem: Kleine Kinder gehen in großen Gruppen leicht unter: "Ältere Kinder können sich leichter ausdrücken, damit erreichen sie schneller die Aufmerksamkeit der Betreuer." Die Elementarpädagogin hat ähnliche Beobachtungen gemacht: "Kleine Kinder spielen ganz anders, oft noch alleine oder im Parallelspiel. Eine große, altersübergreifende Gruppe überfordert sie." Ob Kinder sich in großen oder kleinen Gruppen wohler fühlen, hängt laut der Pädagogin aber immer vom Kind selbst ab: "Es gibt auch temperamentvolle Kleinkinder, die sich schnell langweilen und lieber mit Älteren spielen."

Die Vereinbarkeit von Job und Familie ist vor allem für Mütter häufig ein Drahtseilakt. Was helfen kann, sind hochwertige, flächendeckende Betreuungseinrichtungen.
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Spielen statt Staubsaugen

Zurück zur Teilzeitdebatte: Oft haben Eltern gar keine andere Wahl, als ihr Kind den ganzen Tag in die Betreuung zu geben. Besonders der Druck auf die Mütter ist groß, der Spagat zwischen Familie und Karriere enorm. "Ich erlebe Eltern, die weinen, weil sie ihr Kind um 8 Uhr morgens abgeben und erst um 18 Uhr wiedersehen", sagt Caro. Beim Abholen wollen die Eltern wissen, wie der Tag war. "Sie wollen hören, dass es gut war, dass ihr Kind viel gespielt und gegessen hat." Nur wenige Eltern würden verstehen, wenn man sie bittet, das Kind auch einmal früher zu holen, weil es zu viel sei. "Dabei braucht das Kind es oft", sagt die Pädagogin. Es gehe um Exklusivzeit. Um Eins-zu-eins-Zeit. Ob das Mama, Papa oder Opa ist, spiele dabei keine Rolle, befindet sie.

Auch die Forschung zeigt: Kinder durchlaufen bis zum zweiten Lebensjahr viele wichtige Meilensteine. "In dieser Zeit benötigen sie eine haltgebende, stabilisierende Bezugsperson", sagt Eckstein-Madry. Sie rät Eltern, die wenigen Stunden am Nachmittag, die nach einem langen Tag in der Betreuung bleiben, aktiv mit dem Kind zu verbringen. "Ich bin selbst Mutter von zwei Kindern, man kommt gestresst von der Arbeit, zu Hause wartet der Haushalt, man muss noch das Abendessen vorbereiten." Für eine gute Bindung zwischen Eltern und Kind sei es wichtig, dass Mama oder Papa geduldig und liebevoll sind, trösten und zuhören.

Sanft eingewöhnen

Die erste Zeit in der Fremdbetreuung ist sehr entscheidend. Für das Kind ist dort alles neu: die Pädagogin oder der Pädagoge, viele neue Kinder, viel mehr Lärm als sonst und unbekannte Räumlichkeiten. Dazu kommt der Trennungsschmerz, wenn Mama oder Papa den Gruppenraum verlassen. Eingewöhnung bedeutet für die Kinder Stress. Dieser Stress konnte durch Speichelproben im Rahmen der Wiener Kinderkrippen Studie nachgewiesen werden: "In den ersten Wochen der Eingewöhnung erhöht sich das Stresshormon Cortisol", sagt Eckstein-Madry, die an der Studie beteiligt war. "Eine sanfte, bedürfnisorientierte Eingewöhnungsphase und ein entspannter Familienalltag helfen den Kindern dabei, diesen Stress zu verarbeiten." Das hat der Großteil der Kinderbetreuungseinrichtungen bereits erkannt. Fast überall gibt es ein Eingewöhnungskonzept. Eltern müssen sich dafür oft mehrere Wochen freihalten.

Mit welchem Alter Kinder am besten eingewöhnt werden sollten? Dazu kann weder die Pädagogin noch die Entwicklungspsychologin eine Empfehlung abgeben: "Kinder sind individuell, die Alltagsrealität in Familien ebenso." Mehr Personal ist wichtig. Da sind sich beide einig. (Nadja Kupsa, 11.3.2023)