Einem deutschen Medienbericht zufolge wurde im Jänner ein verdächtiges Schiff durchsucht. das womöglich zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden ist.

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Kiew/Moskau – Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hat am Mittwoch vor voreiligen Anschuldigungen bei den Angriffen auf die Nord Stream-Pipelines gewarnt. Am Dienstag war bekannt geworden, dass die US-Regierung laut einem Medienbericht davon ausgeht, dass eine proukrainische Gruppe hinter der Sprengung der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee im September steht. Ein Berater aus dem ukrainischen Präsidentenbüro streitet indes eine Beteiligung seitens der Ukraine ab.

"Es könnte sich genauso gut um eine "False-Flag-Aktion handeln, um der Ukraine die Schuld zu gebe – eine Möglichkeit, die auch in den Medienberichten erwähnt wird", sagte Pistorius in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. "Die Wahrscheinlichkeit für das eine oder das andere ist gleich hoch." Insgesamt gelte es aber abzuwarten. Pistorius äußerte sich in Stockholm zur Causa, wo am Mittwoch EU-Verteidigungsminister über weitere Munitionslieferungen an die Ukraine tagen.

Auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich zurückhaltend. Die Berichte würden natürlich intensiv verfolgt werden, zunächst müssten aber die zuständigen Behörden ihre Ermittlungen zu Ende führen. Baerbock verwies auf den Generalbundesanwalt in Karlsruhe, der für die Ermittlungen zuständig sei. Dieser ermittelt seit Anfang Oktober 2022. Die Ministerin erinnerte auch daran, dass Schweden, Dänemark und Deutschland vor wenigen Tagen den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darüber informiert haben, dass die Untersuchungen noch laufen und man noch keine Erkenntnisse geben könne.

VIDEO: Die Behörden in Schweden hatten im September ein viertes Leck an den Nord-Stream-Pipelines am Grund der Ostsee entdeckt
DER STANDARD

Vieles noch unklar

Die "New York Times" berichtete am Dienstag unter Berufung auf mehrere anonyme US-Regierungsvertreter von den Annahmen, darauf würden neue Geheimdienstinformationen hinweisen. Es gebe aber keine Hinweise darauf, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj oder sein enges Umfeld in den Sabotageakt verwickelt seien. Die Anweisung dazu soll auch nicht von einem ukrainischen Regierungsvertreter gekommen sein.

Laut der "New York Times" räumten die US-Regierungsvertreter ein, dass vieles noch unklar sei – etwa wer genau die Sprengungen verübt, wer sie angeordnet und wer den Einsatz finanziert habe. Auch die Art der Geheimdienstinformationen und wie schwerwiegend die Beweise sind, sei unklar. Es gebe aber Hinweise darauf, dass es sich um Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin handle. Verantwortlich seien vermutlich ukrainische oder russische Staatsbürger. Britische oder US-Staatsbürger seien nicht beteiligt gewesen.

Neue Ermittlungsergebnisse

Auch jüngste Ermittlungsergebnisse aus Deutschland führen in die Ukraine. Nach einer Recherche von ARD, SWR und der "Zeit" konnte im Zuge der Ermittlungen weitgehend rekonstruiert werden, wie und wann der Sprengstoffanschlag vorbereitet wurde.

Das Boot, das mutmaßlich für die Geheimoperation verwendet wurde, sei demnach von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden, die offenbar zwei Ukrainern gehört. Die Geheimoperation auf See soll von einem Team aus sechs Personen durchgeführt worden sein: einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Die Gruppe soll am 6. September 2022 von Rostock aus in See gestochen sein. Deren Nationalität ist aber unklar, weil sie dem Medienbericht zufolge professionell gefälschte Reisepässe nutzten, die unter anderem für die Anmietung des Bootes eingesetzt worden sein sollen. Auch die Frage, wer die Zerstörung in Auftrag gegeben hat, wird nicht beantwortet.

Sprengstoffspuren gefunden

Laut "Zeit" geben die Verdächtigen das Boot ungereinigt zurück, auf dem Tisch in der Kabine seien dann Spuren von Sprengstoff gefunden worden.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet am Mittwoch, dass die Bundesanwaltschaft im Jänner ein verdächtiges Schiff durchsuchen hat lassen, das womöglich zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden sei. "Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen", teilte die Karlsruher Behörde auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. "Belastbare Aussagen hierzu, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung, können derzeit nicht getroffen werden."

Russland ortet Ablenkungsversuch

Russland wertet die Medienberichte zu den Sabotage-Untersuchungen als Versuch, von den wahren Drahtziehern abzulenken. "Es ist einfach ein Mittel, um den Verdacht von denjenigen in offiziellen Regierungspositionen, die die Angriffe in der Ostsee angeordnet und koordiniert haben, auf irgendwelche abstrakten Personen zu lenken", erklärte die russische Botschaft in den Vereinigten Staaten auf der Nachrichtenplattform Telegram. "Wir können und wollen nicht an die Unparteilichkeit der Schlussfolgerungen der US-Geheimdienste glauben", hieß es weiter.

Russland verlangt von den Staaten der an den Nord-Stream-Pipelines beteiligten Unternehmen, schnelle und transparente Untersuchungen der Explosionen. Russland dürfe sich weiterhin nicht an den Ermittlungen beteiligen, sagt Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Erst vor einigen Tagen habe Russland entsprechende Mitteilungen Dänemarks und Schwedens erhalten. "Das ist nicht nur seltsam. Das riecht nach einem gigantischen Verbrechen." Eigentümer der in der Schweiz ansässigen Betreibergesellschaft von Nord Stream 1, der Nord Stream AG, sind neben dem russischen Staatskonzern Gazprom unter anderem Wintershall DEA und E.ON aus Deutschland.

Sprengstoffreste nachgewiesen

Explosionen hatten im September in den Wirtschaftszonen Schwedens und Dänemarks in der Ostsee mehrere Lecks in die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 gerissen, die für den Transport von russischem Gas nach Deutschland gebaut worden waren. Die Pipelines waren zum Zeitpunkt der Explosionen nicht in Betrieb, enthielten aber Gas. Nach Angaben Schwedens steckt Sabotage hinter dem Vorfall. Demnach wurden Sprengstoffreste nachgewiesen.

Über die Frage, wer hinter der mutmaßlichen Sabotage steckt, hat es viele Spekulationen gegeben. Verdächtigt wurde unter anderem Russland selbst – auch wenn unklar blieb, warum die Regierung in Moskau Pipelines sprengen sollte, die für den Export von russischem Erdgas bestimmt sind.

Die russische Regierung hat jegliche Verantwortung von sich gewiesen und mit dem Finger auf Washington gezeigt. Die US-Regierung hatte sich gegen den Bau von Nord Stream 2 gestemmt und das Projekt als geopolitisches Druckmittel des Kreml verurteilt.

Umstrittene Hersh-Story

Anfang Februar sorgte dann der bekannte US-Investigativreporter Seymour Hersh mit einem Bericht für Aufsehen, demzufolge die USA die Pipelines gesprengt haben sollen. US-Marinetaucher hätten im Juni bei einer vom Weißen Haus angeordneten und vom US-Auslandsgeheimdienst CIA geplanten verdeckten Operation mithilfe Norwegens Sprengsätze an den Gaspipelines angebracht. Die Sprengsätze seien dann im September ferngezündet worden.

Die US-Regierung hat dies entschieden zurückgewiesen. "Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung", erklärte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson. Unabhängige Faktenprüfer haben auf Ungereimtheiten im Hersh-Bericht hingewiesen. Der Journalist hatte den Bericht nicht in einem großen Medium, sondern auf seinem Blog veröffentlicht. Der 85-Jährige beruft sich zudem nur auf eine anonyme Quelle. (APA, red, 7.3.2023)