Heftiges Blubbern auf der Ostsee nahe der Insel Bornholm hat in der Nacht vom 25. auf den 26. September 2022 die Behörden Dänemarks und Schwedens Alarm schlagen lassen: Große Lecks hatten die russischen Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2, beide in etwa achtzig Metern Tiefe auf dem Meeresgrund verlegt, beschädigt. Das Methangas, mit dem die insgesamt vier Röhren zur Aufrechterhaltung des Drucks befüllt waren, trat aus und verursachte an der Oberfläche riesige Blasen.

Dutzende Meter im Durchmesser: Riesige Blasen auf der Ostsee – Foto vom 28. September 2022.
Foto: Swedish Coast Guard via AP

Bald stand fest, dass es sich um Sabotage handeln musste. Unklar war und bleibt jedoch, wer hinter den Anschlägen auf die vor allem von Russland finanzierten, sich jedoch nicht in Betrieb befindlichen Pipelines steckte. Einige Fachleute hatten schnell den Kreml als Urheber ausfindig gemacht. Nur Russland, hieß es, verfüge sowohl über die Mittel als auch über ein Motiv, die unterseeischen Leitungen mitten in Nato-Gebiet zu sprengen. Ein neuer Bericht der "New York Times" lässt nun Zweifel an dieser These aufkommen – bleibt aber selbst überaus sparsam mit handfesten Beweisen.

Frage: Wer soll denn laut den neuen Erkenntnissen hinter den Sprengstoffanschlägen auf Nord Stream 1 und 2 stecken?

Antwort: Während sich die "New York Times" auf Geheimdienstinformationen beruft, wonach eine "proukrainische Gruppe" für die Sprengungen verantwortlich sein könnte, haben deutsche Ermittlungsbehörden einer Recherche der "Zeit" sowie der Sender ARD und SWR zufolge konkretere Hinweise zutage gefördert. So will die Polizei jene Yacht ausfindig gemacht haben, von der aus die Sprengsätze an den Leitungen angebracht wurden: Am 6. September soll das Boot, mit fünf Männern und einer Frau an Bord, im norddeutschen Rostock ausgelaufen sein. Zwar dürften die mutmaßlichen Täter und die mutmaßliche Täterin gefälschte Pässe verwendet haben, angemietet wurde die Yacht aber von einer Firma mit Sitz in Polen, die den Berichten zufolge zwei Ukrainern gehört.

Der "New York Times" zufolge dürften die Attentäter und die Attentäterin "wahrscheinlich" aus der Ukraine oder Russland stammen. In der Kabine sollen die Ermittlerinnen und Ermittler schließlich auf einem Tisch Sprengstoffspuren gefunden haben, die eine Verwicklung in die Nord-Stream-Sprengung plausibel machen.

Frage: Gibt es Hinweise auf eine Verbindung der mutmaßlichen Attentäterin und der mutmaßlichen Attentäter zum ukrainischen Staat?

Antwort: Nein. Kiew hat jeden Zusammenhang mit der Nord-Stream-Sprengung stets zurückgewiesen – wie übrigens auch Moskau. Mychajlo Podoljak, ein prominenter Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, dementierte nach Bekanntwerden der neuen Erkenntnisse postwendend: Man habe "natürlich nichts mit den Anschlägen auf Nord Stream 2 zu tun" und habe auch keinerlei Informationen über "proukrainische Gruppen".

Ein westlicher Geheimdienst, dessen genaue Provenienz in den neuen Berichten ungenannt bleibt, soll schon kurz nach den Anschlägen auf eine ukrainische Urheberschaft der Anschläge hingewiesen haben. Wer dem Kommando den Auftrag erteilt hat, bleibt aber weiterhin unklar. Hinweise darauf, dass die ukrainische Staatsspitze, also Präsident Selenskyj oder sein Umfeld, dahintersteckt, geben die Recherchen nicht. In der "New York Times" heißt es, "Putin-Gegner" könnten die Sprengungen veranlasst haben – ob diese inner- oder außerhalb Russlands zu verorten sind, ließ die Zeitung offen.

Frage: Wie soll der Anschlag konkret ausgeführt worden sein?

Antwort: Die Ermittlungen der deutschen Polizei bringen da ein wenig Licht ins Dunkel: Informationen der "Zeit" zufolge nahm die Yacht von Rostock aus Kurs auf Christiansø, bevor sie in jenes Gebiet östlich der dänischen Insel Bornholm aufbrach, auf dessen Meeresgrund die politisch hochumstrittenen Gasleitungen verliefen. Den Sprengstoff sollen die Täter zuvor noch im deutschen Hafen per Lieferwagen auf ihr Boot geschafft haben, so die Ermittlungsergebnisse. Insgesamt soll die Crew aus sechs Personen bestanden haben: ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und eine Ärztin. Wie genau der Sprengstoff an den Leitungen, die aus vier Zentimetern Stahlwand und einer massiver Betonschicht bestanden, angebracht wurden, gehört zu jenen Details, die bisher noch unklar sind.

Frage: Wie reagiert Russland?

Antwort: Moskau, das nicht in die Untersuchungen über die Sprengung der – vor allem mit russischem Geld finanzierten – Pipelines eingebunden ist, blieb bei seiner Argumentationslinie: Westliche Regierungen steckten hinter dem Anschlag. "Wir können und wollen nicht an die Unparteilichkeit der Schlussfolgerungen der US-Geheimdienste glauben", hieß es am Dienstag aus der russischen Botschaft in Washington. Russland dürfe sich weiterhin nicht an den Ermittlungen beteiligen, beklagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Erst vor einigen Tagen habe Russland entsprechende Mitteilungen Dänemarks und Schwedens erhalten. "Das ist nicht nur seltsam. Das riecht nach einem gigantischen Verbrechen." Über das Motiv wird weiterhin spekuliert. Die ukrainische Seite, die bereits vor dem Bau der Pipeline dagegen war, hätte wohl eine stärkere Motivation gehabt, sie zu zerstören – wurden dadurch doch russische Gaslieferungen nach Westeuropa unterbrochen.

Frage: Beschäftigen sich auch die EU-Verteidigungsministerinnen und -minister mit der Causa Nord Stream?

Antwort: "Es gibt noch keine gesicherten Informationen, ich will darüber nicht spekulieren", sagte die niederländische Ressortchefin Karin Hildur auf Fragen von Journalisten bei einem Treffen der Verteidigungsminister in Stockholm. In dasselbe Horn stieß der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er warnte am Rande des Treffens vor "voreiligen Anschuldigungen", es könne sich auch um eine Aktion unter falscher Flagge, eine "False-Flag-Aktion" handeln, um der Ukraine zu schaden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies so ist, sei genauso hoch wie Vermutungen von Geheimdiensten, dass proukrainische Putin-Gegner die Sprengungen durchgeführt haben. Auch Österreichs Ministerin Klaudia Tanner (ÖVP) wollte sich wegen der unklaren Informationslage nicht näher dazu äußern: "Es wird hier kein Thema sein", sagte sie dem STANDARD.

Frage: Was bedeutet eine False-Flag-Aktion?

Antwort: Tatsächlich kann noch nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden, dass die Verantwortlichen hinter dem Anschlag eine falsche Spur gelegt haben, um die Ermittler auf die Ukraine-Fährte zu bringen. Das wird auch in den veröffentlichten Berichten so festgehalten. Doch konkrete Hinweise wurden dazu noch keine entdeckt.

Frage: Auch Dänemark und Schweden ermitteln in der Causa. Wie reagieren sie auf die Berichte?

Antwort: Die schwedische und die dänische Regierung halten sich ebenso bedeckt wie die deutsche. Auf einer Pressekonferenz am Dienstag verwies der schwedische Premier Ulf Kristersson auf die Voruntersuchungen der schwedischen Behörden, denen er nicht vorgreifen wolle. "Kein Kommentar", hieß es auch beim dänischen Verteidigungsminister Troels Lund Poulsen. In Berlin sagte ein Regierungssprecher am Dienstag, dass die drei Länder erst vor wenigen Tagen den UN-Sicherheitsrat über den Stand der Ermittlungen informiert hätten – und es noch keine Ergebnisse gebe.

Frage: Abgesehen von der Schuldfrage – werden die beschädigten Pipelines nun wieder repariert?

Antwort: Die Kosten einer Instandsetzung werden von Fachleuten mit mindestens 500 Millionen US-Dollar beziffert, und auch der russische Gasriese Gazprom sprach davon, dass solch eine Aktion möglich sei. Doch vor wenigen Tagen berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass Russland offenbar kein Interesse daran hat, die beschädigten Gasröhren zu reparieren. Die angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Westeuropa seien auch in naher Zukunft nicht zu kitten, ein Gasverkauf über Nord Stream 1 und 2 deshalb zeitnah mehr als unwahrscheinlich, sagten zwei Quellen zu Reuters. (Bianca Blei, Florian Niederndorfer, Thomas Mayer aus Stockholm, 8.3.2023)