Ein freilebender Wolf in Finnland – aller Wahrscheinlichkeit nach nicht beim Kampf gegen den Ranghöchsten seines Rudels, der auch sein Vater ist.
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An welche Spezies denken Sie, wenn Sie den Begriff "Alphatier" lesen? Ein Wolfsrudel, dessen Männchen sich gegenseitig in der Konkurrenz um gerissene Schafe und fruchtbare Weibchen zerfleischen – wenn sie nicht gerade den Vollmond anjaulen? Dieses Bild ist veraltet und falsch, wie Fachleute schon seit Jahrzehnten wissen. Nichtsdestoweniger hat es sich so stark in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, dass noch heute ein wölfisches Duell zwischen einem dominanten, besonders maskulinen Alphamännchen und einem untergeordneten Betatier heraufbeschworen wird. So bezeichnet sich ein Weggefährte des misogynen Influencers Andrew Tate als "Alpha Wolf".

Damit würde er eigentlich ausdrücken, dass er Familienvater ist, wenn man es mit der Biologie genau nimmt. Denn "die anerkannten Chefs sind schlicht die beiden Elterntiere", wenn es um Freilandwölfe geht, sagt der österreichische Verhaltensforscher Kurt Kotrschal von der Uni Wien gegenüber dem STANDARD. Ein wildes Wolfsrudel besteht meist aus dem Elternpaar und dessen Nachkommen, die sich als Jungtiere – etwa bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr – noch nicht "selbstständig gemacht" und ein neues Rudel gegründet haben.

Flache Hierarchien

Das betont auch ein Wissenschafter, der selbst zum Mythos des Alpha-Wolfs beigetragen hat: Der US-amerikanische Verhaltensforscher David Mech veröffentlichte 1970 das Sachbuch "The Wolf", das lange Zeit als Standardwerk galt. Darin verwendete er die Alphawolf-Bezeichnung. Seit sich die wissenschaftlichen Ergebnisse mehren, die dieses Konzept hinterfragen, setzt er sich gegen diesen Begriff ein – und erreichte 2022 endlich, dass das Buch nicht mehr nachgedruckt wird, wie er kürzlich im "Scientific American" deutlich machte.

"Generell ist der Begriff vom Alpha-Wolf, worunter man ein besonders dominantes Exemplar versteht, das seine Gruppe autoritär führt, passé", sagt Kotrschal. Das bedeute zwar nicht, dass es im Freiland gar keine Art von Rangfolge gebe. Doch seien die Hierarchien flach: Neben dem Vater hat auch die Mutter eine bestimmende Rolle.

Die Rudel sind meist relativ klein, Eltern haben das Sagen.
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In den Rudeln, zu denen oft sechs bis zehn Familienmitglieder gehören, ordnen sich zudem die Welpen den älteren Geschwistern unter. Ist Nahrung rar, können sich die Eltern allerdings darum kümmern, dass die Jüngsten zuerst fressen dürfen.

Alpha-Pärchen

Nicht nur Experte Mech prägte den Begriff. Im 19. Jahrhundert habe man den Wolf zu einem Symbol stilisiert, das für Härte, Ausdauer, Tapferkeit und eine autoritäre Führergesellschaft stehe, sagte Kotrschal in einem anderen Interview. In den 1940er-Jahren veröffentlichte der Schweizer Zoologe Rudolf Schenkel ein wichtiges Werk über Wolfsverhalten. Die Tiere hatte er im Zoo Basel erforscht. Schenkel hielt fest, dass sich in einem Rudel ein dominantes Weibchen und ein dominantes Männchen fänden – die "Alphas".

Ein Knackpunkt früherer Studien: Das Verhalten in Gefangenschaft lässt sich nicht ohne weiteres auf die freie Wildbahn übertragen. Immerhin werden in Zoos oft erwachsene Individuen zusammen in ein Gehege gesetzt, die zwar zur selben Art gehören, aber nicht miteinander verwandt sind. Dann könne sich die Dominanz anders gestalten, sagt Mech, doch dies sei vergleichbar mit dem, was in menschlichen Gefängnissen geschehen könne.

In Nationalparks kommt es hin und wieder dazu, dass Nachkommen länger als sonst im Verband ihrer Eltern bleiben. Im Yellowstone-Nationalpark in den USA gibt es etwa mehrere große Wolfsrudel, in denen bis zu 37 Individuen zusammenleben. Wenn ein Jungtier sein eigenes Rudel gründen will, ist dort das Risiko groß, mit einem anderen Rudel in Konflikt zu geraten, sagt Wolfsforscher David Ausband von der Universität Idaho: "Es sagt sich dann quasi: 'Ich bleibe lieber zu Hause. Da bekomme ich wenigstens etwas zu essen.'"

Dominante Weibchen

Unter den nötigen Vorbedingungen können also Rudel entstehen, in denen es mehrere Paare gibt, die sich fortpflanzen. "In diesem Fall halte ich persönlich es für angebracht, den Alpha-Begriff zu verwenden, denn dann gibt es immer noch ein dominantes Weibchen, das in diesem Rudel das Sagen hat", sagt Ausband. "Das zweite Weibchen, das sich fortpflanzt, ist normalerweise dessen Tochter." Um Inzucht zu vermeiden, gibt es dann ein weiteres Männchen, das einen etwas niedrigeren Status hat und sich – neben dem Vater des Tochterwolfs – ebenfalls fortpflanzt.

Rangkämpfe kommen bei freilebenden Wölfen so gut wie gar nicht vor.
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Greift der Mensch ein, etwa durch den Abschuss eines freilebenden Wolfs, können sich die Rollen in einem Rudel verändern. Allerdings sind die Väter und Mütter meist älter, erfahrener und sicherer in ihrem Überlebensinstinkt, sagt Mech, weshalb sie seltener als junge Wölfe getötet werden. Ist die Wolfsterblichkeit hoch, werden mitunter Wölfe neu in ein Rudel aufgenommen, die keine Fortpflanzungsaufgaben übernehmen, ergänzt Verhaltensforscherin Sarah Bassing von der Uni Idaho. Wie Wölfe mit einer solchen Situation umgehen, sei regional jedoch sehr unterschiedlich.

Parasit macht risikobereit

Über eine weitere, durchaus skurrile Besonderheit berichtete erst im vergangenen Herbst ein Forschungsteam: Es fand heraus, dass ein Parasit bei Wölfen risikoreiches Verhalten hervorrufen kann. Wieder wurden Wölfe im Yellowstone-Nationalpark untersucht. Der Erreger Toxoplasma gondii, der wohl von Pumas auf sie übertragen wurde, ließ bestimmte Wölfe öfter als andere Artgenossen ihr Rudel verlassen, um ein neues zu gründen. Dies wurde für männliche und weibliche Tiere gezeigt und könnte auch mit erhöhtem Testosterongehalt zusammenhängen.

Generell haben Wolfsrüden aber beinahe das ganze Jahr über niedrige Testosteronwerte, sagt Kotrschal. Lediglich zur Paarungszeit – oder Ranzzeit – steige der Level des Hormons stark an. Damit seien Wölfe "wesentlich ökonomischer" als Hunde oder auch Menschen, meint Kotrschal – und oft auch friedfertiger: Sie leben "in kooperativen Familienverbänden liebevoll und beinahe egalitär untereinander".

Kein Aufbegehren gegen Papa Wolf

In anderen Tierarten sind Rangdynamiken hingegen stärker ausgeprägt. Das betrifft etwa einige Primatenarten, bekannt sind die dominanten Silberrücken unter Gorillas. Zudem hat sich der Begriff des Alphatiers längst in unserer Sprache festgesetzt. Dennoch fragt Wolfforscher Mech kritisch: "Welchen Wert hätte es, einen menschlichen Vater als Alphamännchen zu bezeichnen? Er ist einfach nur der Familienvater. Und genau so ist es bei Wölfen."

"Vater und Mutter sind also quasi Alpha-Männchen und Alpha-Weibchen – doch es gibt eigentlich keinen Grund, sie so zu nennen, wenn man einfach Mama und Papa sagen kann", formuliert es die Wissenschaftskommunikatorin Mai Thi Nguyen-Kim.

Innerhalb der Wolfsfamilie gibt es übrigens keine Bestrebungen der Söhne, den Vater zu dominieren und das Rudel zu übernehmen. Diese Tendenz ist ebenfalls menschlichen Erzählungen zuzuordnen, sie fällt in das Spezialgebiet von Sigmund Freud um den griechischen Mythos des Ödipus. (Julia Sica, 9.3.2023)