#KeepRunning. Diesen Hashtag fügte Alexander Kamyschin einem Foto von seiner Sportuhr auf dem Handgelenk an, dahinter zu sehen: ukrainische Landschaft. Kamyschin hat das Bild irgendwo zwischen Borodjanka, Butscha, Irpin und Kiew aufgenommen – vier schwer vom Krieg gezeichnete Städte. Genau diese Route läuft der scheidende Chef der ukrainischen Eisenbahn am ersten kalten Märzwochenende. Vor Kriegsbeginn hatte er sich nämlich für den Marathon in Tokio angemeldet, und da eine Teilnahme nun nicht mehr möglich war, wollte er zumindest in seiner Heimat die 42.195 Meter zurücklegen.

Nach 30 Kilometern habe jedenfalls die berühmte Mauer oder der "Mann mit dem Hammer" auf den 38-jährigen Fast-Zwei-Meter-Hünen gewartet – wie viele Läufer die schwierige Zwischenmarke bezeichnen. Aber dann habe er ein Plakat von US-Präsident Joe Biden entdeckt, und da musste er einfach weiterlaufen.

Ein Monat mit drei Trainings pro Woche reichte Kamyschin zur Vorbereitung auf seinen persönlichen Marathon.

Weiterlaufen, das ist auch das Motto der ukrainischen Bahn seit Kriegsbeginn. "Ich will leben. Ich muss überleben und einen Weg finden, wie mein Land überleben kann", sagte er seinen Kollegen der Deutschen Bahn vor einigen Wochen. Und wenn sein Land überleben will, müsse nun auch mal die Bahn weiterlaufen. Der Krieg dürfe da keine Entschuldigung sein, sagt Kamyschin, der Finanzwesen studierte und früher Investmentmanager war.

Pünktlicher als die Deutsche Bahn

Das Beeindruckende: trotz des permanenten russischen Raketenbeschusses, trotz 319 getöteter Bahnmitarbeiterinnen und Bahnmitarbeitern, sowie 703 Verletzen allein im Jahr 2022 wurde die ukrainische Bahn zuletzt fast besser. Als US-Präsident Joe Biden unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen mit der "Train Force One" nach Kiew gebracht wurde, entschuldigte sich Kamyschin via Twitter bei der Bevölkerung, dass an jenem Tag die Züge in der Ukraine entgegen der sonstigen Performance "nur" zu 90 Prozent pünktlich ankamen.

Ob Man-Bun-Undercut, nicht aufgestellter Irokese oder einfach nur der Mann mit der markanten Frisur. Alexander Kamyschin fiel auch ob seiner Haarpracht auf, wird aber vor allem wegen seines Einsatzes für die ukrainische Bahn in Erinnerung bleiben.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Wenngleich die Entschuldigung vielleicht tatsächlich ernst gemeint war, sollte sie vor allem auch eine Botschaft an die Welt senden. In der Ukraine läuft alles weiter, egal wie sehr Russland das Land mit Bomben und Raketen überzieht. In den USA – wo im Schnitt 22 Prozent der Züge pünktlich ankommen – hatte Kamyschin die Lacher sowieso auf seiner Seite. In Deutschland, wo die Pünktlichkeitsrate im Februar 2023 zuletzt zwischen 71 Prozent (im Fernreiseverkehr) und 93 Prozent (im Regionalverkehr) pendelte, hagelte es auch Spott für die heimische Bahn nach dem Motto: "Selbst im Krieg pünktlicher als die Deutsche Bahn".

Ende Februar überraschte Kamyschin, der die staatliche Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja 2021 erst interimistisch, ab April 2022 dann offiziell geführt hatte und 230.000 Angestellten als CEO vorstand mit einem Jobwechsel. In Absprache mit dem ukrainischen Verkehrsministerium will er sich fortan aus einem EU-Land um die stärkere Integration der ukrainischen Eisenbahn in die Union kümmern, das Land im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Sehnsuchtsort EU vernetzen.

Kriegsfaktor Bahn

Der in Boulevardmedien gerne als "härteste Bahnler" der Welt bezeichnete Kamyschin nennt die "eisernen Männer und Frauen" der ukrainischen Bahn eine "zweite Armee des Landes". Und tatsächlich stimmt es, dass die ukrainische Bahn seit mehr als einem Jahr durch den Transport von Kriegsgerät und Munition einen entscheidenden Anteil am Erfolg der ukrainischen Armee hat.

Der Personenverkehr sei immer ein Nebengeschäft gewesen und der Gütertransport im Vordergrund gestanden, sagt er. Der Krieg habe aber auch gezeigt wie wichtig der Transport der Menschen sei. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flüchteten so ins sichere Ausland. Millionen wagten sich zwischenzeitlich aber auch wieder in die Ukraine zurück – nicht zuletzt Dutzende Spitzenpolitikerinnen und Regierungschefs aus dem Westen. Und diese verbringen immerhin meist mehr Zeit im Zug als im Land, betont Kamyschin immer wieder.

Johnson tauscht sein Kapperl in Kiew ein.

Auch Boris Johnson, damals britischer Premier und ein zutiefst überzeugter Unterstützer der Ukraine, reiste mehrmals per Zug in die ukrainische Hauptstadt. Dort kam es dann auch zum berühmten Kapperltausch. Jene der Londoner Metro wurde durch eine der ukrainischen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja ersetzt. Johnson trug sie später oft über seinem blonden Wuschelhaar. Die Verkaufszahlen der Mütze stiegen anschließend deutlich an.

Symbolik der ersten Klasse

Es sind kleine symbolische Gesten wie diese, die die Ukrainerinnen und Ukrainer immer wieder setzen. Sie scheinen vom Herzen zu kommen, mitunter sind sie aber auch bewusst gedacht, um das Wohlwollen des Westens zu garantieren – eine leider notwendige Überlebensstrategie.

Und so kümmert sich eben auch die Bahn besonders feinfühlig um die prominenten Staatsgäste. So platzierte man beim Besuch des deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier etwa Schwertlilien in dessen Bordabteil. Wieso? Weil die Pflanze auf englisch Iris heißt und die Deutschen kurz vorher das wichtige Flugabwehrsystem Iris-T zugesagt hatten. Ein anderer, namentlich nicht genannter Politiker, soll von der Zugbesatzung in Outfits im Leopardenmuster begrüßt worden sein. Grund waren hier die zugesagten Leopard-2-Kampfpanzer des ost-europäischen Landes. Man mutmaßt es habe sich dabei um Polen gehandelt.

Das ukrainische Schienennetz ist das zwölftgrößte der Welt und auch das siebtgrößte Frachtnetz. Knapp 29 Millionen Tonnen Getreide bretterten im vergangenen Jahr auf Schienen durch die Ukraine. Und ganz nebenbei konnte man die Infrastruktur an elf Grenzübergängen so weit reparieren, dass transnationale Verbindungen nach Polen, Moldau und Rumänien entstanden. Auch das bereits umfassende Nachzugsystem wurde abermals ausgebaut.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bedankte sich immer wieder umfangreich bei Kamyschin und beförderte ihn nach seinem Jobwechsel auch zum präsidentiellen Berater außerhalb seines regulären Teams.

Das Vertrauen in sein Team sei groß, deshalb könne er seinen Job mit einem "ruhigen Herzen" übergeben, schrieb Kamyschin Ende Februar auf Twitter zu seiner Kündigung. Das #EiserneTeam mache einen fantastischen Job. Die ukrainische Bahn wird weiterlaufen – auch ohne Kamyschin. (Fabian Sommavilla, 11.3.2023)