Vor etwas mehr als einem Jahr, am 24. Februar 2022, marschierten Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Ukraine ein. Der Chefermittler der UN in der Ukraine, Erik Møse, äußert sich im STANDARD-Interview über das "unüberschaubare Ausmaß" der russischen Kriegsverbrechen, die Sicherstellung der Beweise und über künftige Strafverfahren gegen die Täter.

VIDEO: Die Menschenrechtsorganisation ZMINA sucht in der Ukraine nach Beweisen für mutmaßliche Kriegsverbrechen. Neben der großen Menge an Beweismaterial, stellt sie auch das ukrainische Rechtssystem vor Herausforderungen.
DER STANDARD

STANDARD: Welches Ausmaß haben die Kriegsverbrechen erreicht, die von Putins Einheiten verübt wurden?

Møse: Das Ausmaß der Kriegsverbrechen in der Ukraine ist unüberschaubar. Wir können nicht alle Verbrechen dokumentieren.

STANDARD: Welche Arten von Kriegsverbrechen dokumentieren Sie?

Møse: Die Kommission dokumentierte in vier Regionen – Kiew, Tschernihiw, Charkow und Sumy – willkürliche Hinrichtungen, unrechtmäßige Inhaftierungen, Folter, Misshandlungen, Vergewaltigungen, andere sexuelle Gewalt, Verschleppungen, Beschuss von Schulen, Krankenhäusern und weiteren zivilen Zielen. Jetzt untersuchen wir die Attacken auf die Energieversorgung der ukrainischen Bevölkerung.

STANDARD: Wer ist für die Verbrechen verantwortlich, deren Dokumentation Sie bisher veröffentlicht haben?

Møse: Russische Streitkräfte sind für die überwiegende Mehrheit der festgestellten Verstöße, einschließlich Kriegsverbrechen, verantwortlich. Auch die ukrainischen Streitkräfte haben in einigen Fällen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen – darunter zwei Vorfälle, die als Kriegsverbrechen einzustufen sind.

STANDARD: Welche Kriegsverbrechen haben Sie am meisten schockiert?

Møse: Die Untersuchungen in Kiew, Tschernihiw, Charkiw und Sumy haben ergeben, dass Muster von willkürlichen Exekutionen in von russischen Streitkräften besetzten Gebieten stattfanden. Sie stellen eine Verletzung des Rechts auf Leben dar und sind als Kriegsverbrechen einzustufen. Bei den Opfern fanden sich übliche Spuren von Hinrichtungen: Kopfschüsse, stumpfe Traumata oder aufgeschlitzte Kehlen. In einigen Fällen gab es auch Anzeichen von Folter an den Körpern, etwa Blutergüsse, Wunden und Brüche. Schockierend waren auch die Vergewaltigungen, die von einigen Soldaten der russischen Streitkräfte verübt wurden. Die Opfer waren zwischen vier und über 80 Jahre alt.

Trauer um die Opfer von Kriegsverbrechen in Butscha.
Foto: EPA/WAEL HAMZEH

STANDARD: Die Truppen des Kremls verschleppen Kinder aus ihrer Heimat, um sie ihrer ukrainischen Identität zu berauben und sie zu Russen zu machen. Welche Erkenntnisse haben Sie über dieses besonders perfide Verbrechen?

Møse: Wir untersuchen diese Vorgänge zurzeit sehr genau und werden darüber in unserem Report berichten, den wir am 20. März dem UN-Menschenrechtsrat vorlegen.

Der Norweger Erik Møse dokumentiert Kriegsverbrechen in der Ukraine.
Foto: AFP / Fabrice Coffrini

STANDARD: Bei Ihren Ermittlungen stützen Sie sich auf Augenzeugenberichte. Wie verlässlich sind die Aussagen der Menschen, die Sie befragen?

Møse: Augenzeugen sind für uns die wichtigste Quelle. Natürlich können wir nicht sagen, dass Zeugenaussagen immer das komplette Bild vermitteln. Wenn ein Augenzeuge etwa einen Angriff auf eine Schule schildert, kann er nicht wissen, ob eine Kriegspartei das Gebäude für militärische Zwecke nutzt. Ein anderes Beispiel sind Zeugen und Opfer sexueller Gewalt. Sie sind oft schwer traumatisiert. Das macht es ihnen schwer, den Ermittlern zu sagen, was passiert ist. Wenn wir sie befragen, dürfen wir sie nicht von Neuem traumatisieren. Das sind sehr schwierige Situationen.

STANDARD: Haben Sie Kontakt zu der russischen Regierung oder der Armee des Kremls?

Møse: Wir haben mehrmals versucht, mit russischen Behörden in Kontakt zu treten. Sie haben unsere Initiative zur Zusammenarbeit und zum Informationsaustausch nicht angenommen. Aber wir setzen unsere Bemühungen fort.

STANDARD: Sie waren Präsident des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda. In Ruanda wurde 1994 ein Völkermord verübt. Jetzt werfen ukrainische Offizielle den Russen vor, genozidale Verbrechen zu verüben. Sehen Sie Anzeichen für einen Völkermord durch Russland in der Ukraine?

Møse: In unserem Bericht an die UN-Vollversammlung haben wir festgehalten, dass Kriegsverbrechen verübt wurden. Unsere Ermittlungen gehen weiter, und wir werden unseren umfassenden Bericht im März 2023 vorlegen.

STANDARD: Haben die russischen Verbrechen ein außergewöhnlich brutales Niveau erreicht?

Møse: Es ist sehr schwierig, das menschliche Leid in verschiedenen Ländern und verschiedenen Situationen zu vergleichen. In allen Konflikten müssen Menschen und besonders die Zivilbevölkerung unfassbar schreckliche Verbrechen erdulden.

STANDARD: Was passiert mit den Beweisen, die Sie und die Untersuchungskommission sammeln, und den Berichten, die Sie erstellen?

Møse: Wir übermitteln Beweise und Berichte an den UN-Menschenrechtsrat und an die UN-Vollversammlung. Gemäß dem Mandat der Kommission soll das Material in Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Täter zur Verfügung stehen. Das Ziel ist, die mutmaßlichen Täter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen – und dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren.

STANDARD: Wird es jemals Prozesse gegen die Täter in Uniform und ihre Auftraggeber bis hin zu Präsident Putin geben?

Møse: Unsere Untersuchungskommission soll Personen und Einrichtungen ermitteln, die für Verletzungen der Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und andere Verbrechen im Zusammenhang mit Russlands Aggression gegen die Ukraine verantwortlich sind. Die Kommission wird in diesem März dem UN-Menschenrechtsrat Empfehlungen für die juristische Aufarbeitung vorlegen, auch für individuelle strafrechtliche Verfolgung. Und zwar auf allen Ebenen der Täterschaft. Es ist dann Sache des Rates, über die Folgemaßnahmen zu entscheiden. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 14.3.2023)