Im Gastblog gibt Heinz Gärtner Einblick, welche Bedeutung der Neutralität zukommt.

Ein offener Brief fordert eine Debatte über die Neutralität. Dies ist ein Beitrag dazu. Doch was meint Neutralität eigentlich? Für sie gibt es viele Definitionen, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet haben.

Nach Beginn des Kalten Krieges verlegte sich der Schwerpunkt der Neutralitäts-Definition von der Auffassung der Neutralität als der Nichtteilnahme an fremden Kriegen und militärischen Konflikten auf die der Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen. Neutralität ist niemals eine notwendige Bedingung für Frieden gewesen, aber sie vermied in der Vergangenheit eine der möglichen Kriegsursachen: die Teilhabe an Kriegen von Militärbündnissen.

Diese beinhalten das Versprechen der Mitgliedsstaaten individuell und gemeinsam, anderen Mitgliedern, falls sie von außerhalb des Bündnisses bedroht oder angegriffen werden, unter Einschluss militärischer Mittel zu Hilfe zu kommen. Ein neutraler Staat darf dieses Versprechen, künftig an einem Krieg eines anderen Staates teilzunehmen, nicht abgeben. Er behält damit aber auch die Macht vor, sich einer derartigen Weisung nicht unterwerfen zu müssen. Somit schließt sich für einen neutralen Staat die Mitgliedschaft in der Nato aus, da deren Gründungsvertrag eine explizite Beistandsverpflichtung enthält. Diese wurde im letzten strategischen Konzept auch auf chinesische Bedrohungen ausgeweitet.

Die Neutralität muss glaubhaft und nützlich sein.
Foto: IMAGO/SEPA.Media/Isabelle Ouvrard

Damit Neutralität von den Großmächten respektiert wird, muss ein neutraler Staat zwei Bedingungen erfüllen. Der Status der Neutralität muss erstens glaubhaft und berechenbar sein. Zweitens, der neutrale Staat muss nützlich sein.

Glaubwürdigkeit und Nützlichkeit

Glaubwürdigkeit bedeutet, dass ein neutraler Staat schon in Friedenszeiten seine Neutralität unzweideutig vermitteln muss. Er darf auch keine Bedrohung darstellen, also zum Beispiel keinem von einer Seite als feindlich wahrgenommen Bündnis beitreten oder diese Absicht vermitteln.

Glaubwürdigkeit wird auch dadurch unterstrichen, dass der neutrale Staat bewaffnet ist. US-Präsident Dwight Eisenhower etwa stimmte der österreichischen Neutralität nur unter der Bedingung zu, dass sie von Österreich, auch bewaffnet, verteidigt wird.

Nützlichkeit kann der neutrale Staat beweisen, indem er die Funktion eines Pufferstaates übernimmt oder gute Dienste anbietet und vermittelnd im weitesten Sinne tätig ist. Damit kann sich der neutrale Staat sehr gute Sicherheitsgarantien erwerben.

Seit der Zeit des Kalten Krieges übernahmen die Neutralen beide Funktionen. Zum einen die Pufferfunktion: Mit der von Finnland und Schweden 2022 bekundeten Absicht, der Nato beizutreten, wählten sie Bündnismitgliedschaft vor Neutralität. Damit haben sie die sowohl von der Sowjetunion als auch von Russland anerkannte Rolle als Pufferstaat gegenüber der Nato aufgegeben. Sie werden von Russland als Feindstaaten eingestuft werden. Von der Nato wird Finnland nach einem Beitritt als Teil ihrer östlichen Flanke, also als Frontstaat, behandelt werden, was die Vorwärtspräsenz ihrer Waffen einschließen wird.

Vermittlerfunktion

Zum anderen die Funktion der "guten Dienste": Neutrale Staaten bieten ihr Territorium und ihre Vermittlung an, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen. Sie können Fazilitatoren oder Vermittler sein, um den wirtschaftlichen und diplomatischen Verkehr aufrechtzuerhalten. So nahmen etwa die neutralen und nicht paktgebundenen Staaten Europas im Rahmen des KSZE-Prozesses (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) seit den Siebzigerjahren diese Aufgabe war.

Großmächte wollen durchaus, dass etablierte Neutralität von anderen Großmächten respektiert wird. US-Präsident Eisenhower signalisierte, das neutrale Österreich, obwohl nicht Teil der Nato, zu verteidigen. Österreich, das den Flüchtlingen aus Ungarn während der dortigen Krise 1956 Hilfe leistete, wurde von der Sowjetunion beschuldigt, Ausbildungslager für die Aufständischen zu unterhalten und Waffen über die ungarische Grenze zu schmuggeln. Moskau werde diese Art von Neutralität nicht akzeptieren. Das US-Außenministerium drohte, dass "ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten" würde.

Stellung einnehmen

In dieser Tradition argumentierte der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, als er viele der internationalen Organisationen in Wien anzusiedeln half. Dies geschah zur Zeit des "heißesten" Höhepunktes des Kalten Krieges mit gegenseitigen Nukleardrohungen der USA und der Sowjetunion. Kreisky sah in den internationalen Organisationen eine Nützlichkeit des neutralen Österreich für Großmächte und damit eine gewisse Garantie vor einem nuklearen Angriff.

Im Sinne einer "engagierten Neutralität" sollen neutrale Staaten aber auch Stellung nehmen. Neutrale Staaten sind nicht wertneutral und dürfen es auch in diesem Krieg nicht sein. Im Gegenteil, "engagierte Neutralität" bedeutet, Stellung zu nehmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Krieg. Neutrale Staaten sind aber nicht gezwungen, die Positionen von Großmächten oder Bündnissen zu übernehmen. Sie stellen für Großmächte, anders als die Bündnisse, keine Bedrohung dar.

Engagierte Neutralität ist somit das Gegenteil von Abseitsstehen. Sie bedeutet Einmischen, wann immer möglich, und Heraushalten, wann immer nötig. Damit kann sie ein wertvoller Beitrag der Vermittlung und der Deeskalation in Zeiten immer schärfer werdender Konfrontationen sein. (Heinz Gärtner, 13.3.2023)