Justizministerin Alma Zadić (Grüne) und Gerhard Karner (ÖVP).

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Seit wenigen Tagen liegen die offiziellen Zahlen des Justizministeriums (BMJ) und des Innenministeriums (BMI) zu rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Straftaten im Jahr 2022 auf. Nicht etwa, weil es einen Rechtsextremismusbericht dazu gäbe – der wurde bekanntlich 2002 von Schwarz-Blau abgeschafft und bislang trotz Ankündigungen noch nicht wieder eingeführt. Sondern weil die SPÖ-Abgeordnete Sabine Schatz diese Zahlen seit 2017 jährlich parlamentarisch anfragt.

Rekordhoch

Wer die Zahlen, die Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) und Justizministerin Alma Zadić (Grüne) liefern, genauer ansieht, wie das die Rechercheplattform "Stoppt die Rechten" tat, muss sich wundern: Während das BMI einen bescheidenen Rückgang von Anzeigen nach Verbotsgesetz von 998 im Jahr 2021 auf 929 im Vorjahr ausweist, sind die Zahlen des BMJ mit 2392 nicht nur auf einem Rekordhoch seit 2017, sondern auch mehr als doppelt so hoch wie jene des BMI.

Auf der Suche nach einer Erklärung für zwei widersprüchliche Trends in ein und derselben Republik fragte DER STANDARD bei beiden Ministerien und bei der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) nach. Das BMJ betonte rasch die Richtigkeit der gemeldeten Zahlen, die auf den "in der Verfahrensautomation der Justiz erfassten Anfallszahlen" beruhen. In den parlamentarischen Anfragen wird auch stets aufgeschlüsselt, welche Fälle eingestellt wurden und wo es zu Verurteilungen kam. Auch die diversen Delikte im Verbotsgesetz werden gesondert angeführt.

Mehr als doppelt so hoch

Aus dem Innenministerium und der DSN wurden dem STANDARD zwei Gründe genannt, wegen derer es Unterschiede geben kann, wenngleich ein Unterschied von weit über hundert Prozent so nicht erklärt werden könne.

Erstens würden nicht alle Taten bei der Polizei angezeigt, sondern NGOs oder auch Privatpersonen zeigen auch direkt bei der Justiz an. Allerdings ermittelt auch dann meist die Polizei, womit die große Diskrepanz nicht erklärt wird.

Die Zahlen zum NS-Verbotsgesetz seit 2017.
Foto: Grafik Der Standard

Zweitens müsse man, so eine DSN-Sprecherin, zwischen "Tathandlungen und Delikten, die im Jahr 2022 gesetzt und den Sicherheitsbehörden bekannt wurden", und jenen, die zwar bekannt wurden, aber aus der Vergangenheit stammen, unterscheiden. Letztere seien nicht in der Statistik 2022 ersichtlich, gingen aber nicht verloren, weil sie in der Kriminalstatistik eigens erfasst werden.

Ex-Extremismusreferatchefin warnt

Beide Erklärungen überzeugen Sibylle Geißler, seit 2021 pensionierte Leiterin des Extremismusreferates im Verfassungsschutz (BVT), nicht: "Ich glaube vielmehr, dass die Meldeschiene nicht ganz so funktioniert. Dafür ist der Unterschied schon extrem hoch." Zum Argument, dass manche Anzeigen direkt bei der Justiz eingehen, meint Geißler: "Viele NGOs und Private wenden sich aber auch an die NS-Meldestelle, und die ist beim BMI." Kleine Unschärfen werde es zwar immer geben, aber die Zahlen seien "doch würdig, dass man sich das genauer anschaut. Weil bei einem so hohen Unterschied hat man ein Problem für Lage- und Gefahreneinschätzung in der DSN."

Schärfer formuliert es der ehemalige grüne Abgeordnete und Betreiber von "Stoppt die Rechten" Karl Öllinger, der die Szene seit Jahrzehnten mit seinem Team beobachtet: "Das, was uns an Datenmaterial vorgelegt wird, scheint den Charakter von Lottozahlen zu haben. Wenn wir die Ansagen ernst nehmen, dass die Bekämpfung von Rechtsextremismus ein politisches Anliegen ist, dann stellt sich zuerst einmal die Frage, wie wir zu nachvollziehbaren Daten kommen, die eine seriöse Lageeinschätzung zulassen. Offenbar braucht es hier eine externe Institution, die diese Aufgabe übernimmt."

Sabine Schatz erinnert auch an den Nationalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, der im Sommer 2021 im Parlament beschlossen wurde, für dessen Umsetzung valide Zahlen und ein Rechtsextremismusbericht "dringend nötig wären".

"Pulverfass"

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) warnte 2020 als Innenminister angesichts vermehrter Waffenfunde im rechtsextremen und sogenannten Querdenker-Milieu davor, dass es zu einem Attentat nur ein kleiner Schritt sei, und bezeichnete die Szene als "Pulverfass". In den letzten drei Jahren fanden die Behörden mindestens 36 Waffenarsenale. Das BMI quittiert die Frage nach dieser Zahl damit, dass man "zu konkreten Ermittlungen keine Auskunft geben" könne. Seitens der DSN räumte man aber ein, sich die Zahlen nochmals mit dem BMJ anzusehen.

Der auf Verhetzung und Wiederbetätigung spezialisierte Wiener Sonderstaatsanwalt Alexander M., betont im STANDARD-Gespräch, Verstöße gegen das Verbotsgesetz seien "in den letzten Jahren deutlich gestiegen, das ist eindeutig spürbar. Verfahren wegen Verhetzung sind dagegen rückläufig." Auch bei der Verhetzung besteht allerdings ein deutlicher Unterschied der gemeldeten Zahlen für 2022: 83 beim BMI und 623 beim BMJ.

Tag X

Gefragt nach seiner Einschätzung der Gefahr, dass sich Neonazis, Staatsverweigerer oder "Querdenker" bewaffnen und gar einen Putsch (Stichwort "Tag X") planen, meint M.: "Hinweise dazu treten in den Verfahren sicher gehäufter auf." M. bemerkt auch "massive Probleme im polizeilichen Bereich bei der Auswertung sichergestellter Datenträger. Die dortigen IT-Abteilungen sind überlastet, es kommt zu Verzögerungen bis zu eineinhalb Jahren." (Colette M. Schmidt, 9.3.2023)