Hamburg trauert nach der Bluttat am Donnerstag.

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Nach der Bluttat in einem Gotteshaus der Zeugen Jehovas in Hamburg wurden am Freitag erste Ermittlungsergebnisse bekannt. Ein 35-jähriger Deutscher stürmte am Donnerstag gegen 21 Uhr im Stadtteil Alsterdorf eine Veranstaltung der örtlichen Gruppe der Glaubensgemeinschaft und tötete dort sieben Menschen und sich selbst. Er war ein Ex-Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas, teilten die Behörden Freitagmittag mit. Er habe die Gemeinschaft vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offensichtlich nicht im Guten verlassen, hieß es weiters. Acht Menschen wurden zudem am Donnerstag teilweise lebensgefährlich verletzt. Laut dem Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) hat das schnelle Eingreifen der Einsatzkräfte weitere Opfer verhindert. Er sprach vom "schlimmsten Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt".

Ein Überblick über den bisherigen Informationsstand: Was weiß man konkret zum gegenwärtigen Zeitpunkt – und was nicht?

VIDEO: Bei einer Pressekonferenz berichteten der Leiter des Staatsschutzes und der Polizeipräsident, was bisher über den Täter bekannt ist.
DER STANDARD

Frage: Wie viele Tote gibt es? Wie kamen sie ums Leben?

Antwort: Nach Angaben der Polizei von Freitagfrüh hat es bei dem Angriff mindestens acht Tote gegeben. Viel Genaueres teilten die Behörden zunächst nicht mit. Freitagmittag gaben die Hamburger Innenbehörde, die Staatsanwaltschaft und die Polizei mehr Details bekannt. Ein Sprecher sagte, es handle sich bei den Toten um vier Männer, zwei Frauen, ein ungeborenes Kind und den Täter selbst. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuzweit. "Alle Todesopfer sind deutscher Staatsangehörigkeit und starben jeweils durch Schusseinwirkung."

Polizeieinsatz nach mutmaßlichem Amoklauf in Hamburg-Alsterdorf.
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Darüber hinaus seien sechs Frauen und zwei Männer im Alter zwischen 23 und 46 Jahren verletzt worden, mindestens vier von ihnen lebensbedrohlich, "teils mit multiplen Schusswunden", sagte Radszuzweit. Sechs der Verletzten seien deutsche Staatsangehörige, je eine Frau ist ugandischer beziehungsweise ukrainischer Staatsangehörigkeit.

Frage: Wer ist für die Tat verantwortlich? Was weiß man über den Täter?

Antwort: Die Tat wurde von der Hamburger Polizei als Amoklauf eingestuft. Bei der Pressekonferenz bestätigte das Innenministerium, was zuvor nur vermutet wurde: Als der Täter die Beamten sah, verschanzte er sich zuerst in einem anderen Stock, später erschoss er sich selbst.

Der Täter ist ein 35 Jahre alter Deutscher. Er sei ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas gewesen und habe diese vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offensichtlich nicht im Guten verlassen. Das teilten die Behörden am Freitag bei einer Pressekonferenz mit. Als Extremist war der mutmaßliche Schütze demnach nicht bekannt. Der Mann habe seit Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte gehabt, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. "Seit dem 12. Dezember befand er sich somit im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole." Dabei handle es sich um die Tatwaffe. "Insgesamt hat er neun Magazine à 15 Schuss verschossen", sagte Staatsschutz-Leiter Radszuweit. In seiner Wohnung wurden bei der Hausdurchsuchung weitere 15 geladene Magazine gefunden.

Die Waffenbehörde hat im Jänner einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung des späteren Täters erhalten. Laut dem unbekannten Schreiber sei das Ziel gewesen, das Verhalten und die waffenrechtlichen Vorschriften in Bezug auf den späteren Täter überprüfen zu lassen. Dieser habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Menschen, besonders die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber, gehegt.

Die Beamten der Waffenbehörde hätten nach dem Hinweis weiter recherchiert. Anfang Februar wurde der 35-Jährige von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht. Dies sei eine Standardkontrolle gewesen, die nach einem anonymen Hinweis erfolgt. Der Mann habe sich kooperativ gezeigt, es habe keine relevanten Beanstandungen gegeben. Die rechtlichen Möglichkeiten seien damit ausgeschöpft gewesen.

Die Ermittler schalteten ein Hinweisportal frei. Auf der Webseite Hinweisportal.de könnten "Fotos und Videos zur Tat oder relevanten Ereignissen in diesem Zusammenhang hochgeladen werden", teilte die Polizei Hamburg auf Twitter mit.

Frage: Wann und wie passierte es?

Antwort: In dem Stadtviertel im Norden Hamburgs war eine Gruppe der Zeugen Jehovas zu einer ihrer regelmäßigen Versammlungen zusammengekommen, als um circa 21 Uhr ein Mann in den Gebetsraum eindrang und zu schießen begann. Eine Anrainerin, eine Studentin, berichtete von "ungefähr vier Schussperioden. In diesen Perioden fielen immer mehrere Schüsse, etwa im Abstand von 20 Sekunden bis zu einer Minute. Ich habe dann weiter aus dem Fenster geschaut und bei den Zeugen Jehovas eine Person ganz hektisch vom Erdgeschoß ins erste Geschoß laufen sehen."

Die Polizei spricht von einem "glücklichen Zufall", dass die neue Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Donnerstagabend gerade in der Nähe des Tatorts war. Sie kam um etwa 21.15 Uhr dort an. Später seien, so die Augenzeugin, offenbar leblose – oder zumindest bewusstlose – Menschen von Polizisten auf die Straße getragen worden. Erst vier Stunden nach den tödlichen Schüssen betrat die Spurensicherung in der Nacht den Tatort.

Polizisten sicherten mit Maschinenpistolen und Streifenwagen den Tatort stundenlang weiträumig ab, die Polizei suchte das weitere Umfeld auch mit Hubschrauber und Suchscheinwerfern ab. Die städtische Rettung war im Großeinsatz, um Verletzte und Geschockte zu versorgen.

Frage: Wie reagiert die Politik?

Antwort: Hamburgs Bürgermeister, der Sozialdemokrat Peter Tschentscher, zeigte sich bestürzt: "Die Meldungen aus Alsterdorf / Groß Borstel sind erschütternd", schrieb Tschentscher auf Twitter. "Den Angehörigen der Opfer gilt mein tiefes Mitgefühl. Die Einsatzkräfte arbeiten mit Hochdruck an der Verfolgung der Täter und der Aufklärung der Hintergründe." Tschentscher rief die Bürgerinnen und Bürger auf, die Hinweise der Polizei zu beachten und Anordnungen Folge zu leisten.

Der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD), sozusagen der regionale Innenminister dankte in den Morgenstunden Polizei, Rettung uns Feuerwehr für einen "vorbildlichen, professionellen Einsatz". Und weiter: "Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind", sagte Grote. "Eine Amoktat dieser Dimension – das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt."

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – früher selbst Innensenator, später auch Bürgermeister von Hamburg – bezeichnete die tödlichen Schüsse als brutale Gewalttat. "Schlimme Nachrichten aus #Hamburg. Mehrere Mitglieder einer Jehova-Gemeinde sind gestern Abend einer brutalen Gewalttat zum Opfer gefallen", postete er am Freitagmorgen über den Regierungsaccount auf Twitter. "Meine Gedanken sind bei ihnen und ihren Angehörigen. Und bei den Sicherheitskräften, die einen schweren Einsatz hinter sich haben."

Frage: Wieso galt der Anschlag den Zeugen Jehovas?

Antwort: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht geklärt. Auf der Internetseite der örtlichen Gruppe der Zeugen Jehovas war für den fraglichen Donnerstagabend eine von zwei wöchentlichen Zusammenkünften angekündigt. Dabei handle es sich immer um Events, zu denen auch die Öffentlichkeit – also nicht nur Mitglieder – eingeladen ist. Thema dieser Zusammenkünfte sei stets, wie man Lehren aus der Bibel im alltäglichen Leben umsetzen könne.

Der Täter war ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas gewesen. Mögliche Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft schließen die Ermittler nicht aus. Polizeipräsident Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit "möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas". Das müsse geprüft werden, in den Akten habe man dazu nichts gefunden. Staatsschutz-Leiter Radszuweit sagte, die Frage von Streitigkeiten sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen.

Die Zeugen Jehovas zeigten sich jedenfalls "tief betroffen". "Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen. Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten", hieß es in einem Statement.

Frage: Wie viele Menschen waren bei diesem Treffen anwesend? Wo genau fand es statt?

Antwort: Wie bei allen anderen Angaben zur Tat blieb die Hamburger Polizei auch hier wenig präzise. "Es sind mehrere Personen in dem Gebäude gewesen während der Veranstaltung", so ein Sprecher.

Bei dem Tatort handelt es sich Medienberichten zufolge um ein dreistöckiges Gewerbegebäude, das an einer breiten Straße und neben einem Malerbetrieb sowie neben einer Baustelle mit drei großen Kränen liegt. In Hamburg-Alsterdorf leben rund 15.000 Menschen, der Stadtteil im Bezirk Hamburg-Nord ist etwa drei Quadratkilometer groß. Neben Alsterdorf gibt es zwölf weitere Stadtteile in dem Bezirk. In Hamburg-Alsterdorf sind zahlreiche Unternehmen angesiedelt. Durch den Stadtteil verläuft der Fluss Alster.

Das Gewerbegebäude, in dem sich Zeugen Jehovas getroffen hatten, als es zum Amoklauf kam.
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Frage: Wer sind die Zeugen Jehovas?

Antwort: Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung. Die Anhängerinnen und Anhänger glauben an Jehova als "allmächtigen Gott und Schöpfer" und sollen sich strengen Vorschriften unterwerfen. Sie legen die Bibel in vielen Bereichen sehr wörtlich aus, zu ihren Glaubensgrundsätzen gehört es, dass eine "neue Welt" bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde gerettet werden. Dieser Ehre müsse man sich aber erst als würdig erweisen.

Mitglied der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen werden Gläubige durch vollständiges Untertauchen in Wasser, unter Beistand eines dazu bevollmächtigten Täufers. Voraussetzung dafür sind das Studium der Grundlehren der Bibel und die Zulassung zur Taufe durch die Ältesten der Versammlung.

Die Mitgliedschaft oder Zusammenarbeit mit ökumenischen Organisationen wie dem Weltkirchenrat lehnen die Zeugen Jehovas ab: Zu groß seien die Lehrunterschiede, sie beurteilen solche Bemühungen von ihrer Seite aus von vornherein als zwecklos. Gleichzeitig sind sie aber sehr bemüht, Menschen zu ihrer Gruppe zu holen.

In Deutschland erlangte die Religionsgemeinschaft 2006 den Körperschaftsstatus, in Österreich 2009 die gesetzliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft.

Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die "Weltzentrale" ist in New York. Die deutsche Gemeinschaft mit etwas weniger als 200.000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa. In Österreich bezeichnen sich knapp 21.000 Menschen als dieser Religionsgruppe zugehörig. (red, 10.3.2023)